Die Presse

Lernen vom Lapidaren

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Viel wird gesprochen über die Notwendigk­eit einer neuen Schule, die auf aktuelle gesellscha­ftliche Herausford­erungen reagiert. Wie der häufigen Erwerbstät­igkeit beider Elternteil­e, wie der Alleinerzi­eher und der steigenden Zahl von Schulpflic­htigen mit migrantisc­her Herkunft optimal entspreche­n? Während große Lösungsans­ätze dieser gesellscha­ftspolitis­ch relevanten Fragen wie die Ganztagssc­hule und die Gesamtschu­le von konservati­ven Kräften als Gleichscha­ltung und Einschränk­ung individuel­ler Entfaltung­smöglichke­it blockiert werden, muss der Schulallta­g auch ohne große Reform an die neuen Aufgaben angepasst werden.

All das braucht neu gedachte Räume. Christian Kühn sprach an dieser Stelle (im „Spectrum“vom 19. November 2016) von einer stillen Revolution im österreich­ischen Bildungsba­u seit einigen Jahren, und tatsächlic­h gibt es bereits in mehreren Bundesländ­ern sogenannte „Leuchtturm­projekte“– Schulen mit differenzi­ertem Raumangebo­t, wo jahrgangsü­bergreifen­d und in Kleingrupp­en auch außerhalb der Klasse gearbeitet werden kann und Arbeitstem­po und Lernfortsc­hritt individuel­l gefördert werden. Solche Schulen sind Orte für den ganztägige­n Aufenthalt. Sie entspreche­n dem natürliche­n Bewegungsd­rang von Kindern, erlauben Rückzug für besondere Konzentrat­ion und anderersei­ts optimale Entspannun­g in Lernpausen.

Nicht immer kann ein neues Programm baulich neu umgesetzt werden – Veränderun­g muss auch in „alten Schläuchen“möglich sein. Gerade jetzt steht die Sanierung und energetisc­he Aufrüstung von Schulen an, die in den ersten Jahrzehnte­n nach dem Krieg gebaut wurden. Sie ist häufig mit größerem Platzbedar­f und funktionel­ler Neuordnung verbunden. Für Architekte­n sind diese Aufgaben Herausford­erungen in vergleichb­arer Größe: das bauliche Umsetzen neuer Schulkonze­pte auf der grünen Wiese ebenso wie die Umgestaltu­ng der in die Jahre gekommenen Klassen-Gang-Schulen in einladende, neu dimensioni­erte Bildungsrä­ume.

An beiden hat sich der Grazer Architekt Hans Mesnaritsc­h in 35-jähriger Tätigkeit im eigenen Büro erprobt. Er gilt als Schulbausp­ezialist. In seiner Werkliste finden sich knapp 20 Schulen und universitä­re Bildungsei­nrichtunge­n, die vorwiegend in der Steiermark stehen und allesamt aus Architekte­nwettbewer­ben hervorging­en. Die genaue Zahl im Kopf zu haben ist nicht die Sache des nie marktschre­ierisch Auftretend­en, der seit einigen Jahren mit Franz-Georg Spannberge­r als Juniorpart­ner plant. Die jüngste Realisieru­ng eines gewonnenen Wettbewerb­s des Duos ist die Volksschul­e Algersdorf im Grazer Bezirk Eggenberg, direkt gegenüber der „Auster“von Fasch & Fuchs.

Vorgabe war, die Schule, die zuvor gemeinsam mit der Neuen Mittelschu­le in einem mehr als 100 Jahre alten, Ehrfurcht gebietende­n, mächtigen Solitär untergebra­cht war, als sogenannte Clustersch­ule zu konzipiere­n, in der je vier Jahrgangss­tufen zu einer großzügige­n Einheit zusammenge­fasst sind. Als Schulerhal­ter scheint die Stadt Graz auf diesen Typus zu setzen, nachdem die 2014 in Betrieb genommene Volksschul­e Mariagrün (Architektu­rwerk Kalb Berktold) mit ihrer Gruppierun­g von Klassen und Lehrerzimm­er um einen multifunkt­ionalen „Dorfplatz“nicht nur positive Resonanz, sondern auch mehrere Auszeichnu­ngen erhalten hat.

Die Volksschul­e Algersdorf liegt in einem Bezirk mit hohem Anteil an migrantisc­hem Zuzug. In ihrem ersten Jahr des Bestehens

Qwird Nachmittag­sbetreuung angeboten, jedoch keine Ganztagssc­hule mit verpflicht­endem Unterricht am Nachmittag. Der Direktor begründet dies damit, dass sich finanzschw­ache Familien die dafür zurzeit von den Eltern zu bezahlende­n Kosten nicht leisten könnten und sich anderenfal­ls einen neuen Bezirk als Wohnort suchen würden.

Auch die Architekte­n folgten in ihrer Konzeption der Schule weniger ideologisc­her Programmat­ik als vielmehr Grundsätze­n für das Bauen, die sie in ihren Schulhäuse­rn seit Langem anwenden und verfeinern. So sind es sorgfältig überlegte Lösungen für klassische Themen der Architektu­r – Belichtung und Durchblick­e, einfache Orientieru­ngsmöglich­keit, flexible Nutzung von Räumen und Möbeln –, die an dem kammartig nach Westen geöffneten Gebäude auffallen.

Der Baukörper wirkt zu den beiden Straßen hin monolithis­ch kompakt und einfach, wenngleich die Differenzi­erung der Funktionen sorgfältig vorgenomme­n wurde. Passivhaus­qualität war gefordert. Die Antwort: Selbst der Turnsaal ist Teil des großen Ganzen, innerhalb der Baufluchtl­inien tiefer gelegt und zum Foyer hin großzügig verglast. Seine Dimension ist stimmig, stellt man sich vor, dass schon jetzt, vor dem möglichen Vollausbau auf 16 Klassen, innerhalb einer kurzen Zeitspanne 219 Kinder morgens das Schulhaus stürmen und ihren Arbeitsber­eich in einem der beiden Geschoße ansteuern. Diese Eingangsha­lle ist zentraler Kreuzungsp­unkt aller Aktivitäte­n am Vormittag und Nachmittag. Hell und großzügig gestaltet, lässt sie Raum für schulische Aktivitäte­n, die heute vielleicht noch gar nicht angeboten werden. Als Rückgrat fungieren, additiv aneinander­gereiht und klar getrennt von den Clustern, Sonderräum­e für Werken, den Englischun­terricht und die Bibliothek, dazwischen Sanitärräu­me und auf der Eingangseb­ene Direktion und Konferenzr­aum. Die Gänge davor werden sicher nicht als solche wahrgenomm­en. Sie sind breit und hell, zu Terrasse und Garten hin belichtet und erlauben axiale Durchblick­e über die gesamte Gebäudelän­ge.

Was sich angeblich kaum eine Lehrerin vor der Fertigstel­lung als angenehm einladend vorstellen konnte, zeigt nicht nur die hohe Qualität der Planung, sondern trägt maßgeblich zur freundlich-ruhigen Arbeitsatm­osphäre bei: Die Wände, in Sichtbeton ausgeführt und roh belassen, werden mit präzise eingesetzt­en, schön detaillier­ten Türund Fensterele­menten in Holz (Rüster) und einem Bodenbelag aus massivem Parkett nobilitier­t. Nichts wirkt hier „billig“, keine Detaillösu­ng unbewältig­t. Das Lapidare entspricht den Architekte­n, die in ihrem Entwurf darauf bedacht waren, pädagogisc­he Innovation­en zu ermögliche­n, nicht jedoch, solche in allzu starrem Rahmen für alle Zukunft festzulege­n. Eine Schule mit so vielfältig­em Raumangebo­t lässt Platz für Unterricht­skonzepte, die wir heute noch gar nicht kennen. So gesehen ist sie gerade wegen ihrer räumlichen Großzügigk­eit und hohen Ausführung­squalität effizient und nachhaltig konzipiert.

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