Die Presse

Massenüber­wachung: Wer braucht noch die Vorratsdat­en?

Observatio­n. Seit zehn Jahren wird über Vorratsdat­enspeicher­ung gestritten. Doch die Massenüber­wachung sieht inzwischen anders aus.

- VON LUKAS FEILER Dr. Lukas Feiler, SSCP CIPP/E, ist Rechtsanwa­lt bei Baker McKenzie in Wien.

Wien. Ein neuerliche­r Sieg für den Datenschut­z – euphorisch begrüßten viele Datenschüt­zer die Entscheidu­ng des Europäisch­en Gerichtsho­fes. Am 21. Dezember hatte der EuGH der Vorratsdat­enspeicher­ung erneut enge Grenzen gesetzt (Rs C203/15 und C698/15). Unbeeindru­ckt davon ließen österreich­ische Minister Anfang Jänner verlauten, dass man „ein vernünftig­es Maß an Vorratsdat­enspeicher­ung“brauche und die Möglichkei­t einer Wiedereinf­ührung prüfe. Tatsächlic­h geht dieser Diskurs an der Realität vorbei.

Die Vorratsdat­enspeicher­ung zwingt Telekommun­ikationsan­bieter, für einen bestimmten Zeitraum (oft sechs Monate) auf Vorrat zu speichern, wer wann mit wem von wo aus per Telefon, SMS oder E-Mail kommunizie­rt. Diese an die Telekommun­ikationsbr­anche ausgelager­te Massenüber­wachung begann – in Bezug auf Telefonanr­ufe – in den USA bereits im Jahre 1987 und hat ihre technische Begründung darin, dass es staatliche­n Behörden anfangs gar nicht möglich war, derartige Daten selbst zu speichern. Als im Rat der Europäisch­en Union im Jahr 2002 erstmals die Einführung einer Vorratsdat­enspeicher­ung für die Internetko­mmunikatio­n diskutiert wurde, standen die Mitgliedst­aaten noch vor ähnlichen Herausford­erungen.

In technische­r Hinsicht sind staatliche Behörden auf einzelne Suchanfrag­en in den Datenbestä­nden einzelner Telekommun­ikationsan­bieter beschränkt. Eine Vernetzung aller Vorratsdat­en aller Anbieter ist demgegenüb­er nicht möglich. In rechtliche­r Hinsicht bringt die Auslagerun­g der Massenüber­wachung Vorteile beim Rechtsschu­tz: Da derartige gesetzlich­e Speicherpf­lichten für Telekommun­ikationsan­bieter grundsätzl­ich im Anwendungs­bereich des EUTelekomm­unikations­rechts liegen, besteht die Möglichkei­t eines Rechtszugs zum Europäisch­en Gerichtsho­f, der die Einhaltung der EU-Grundrecht­echarta auch durch Beugestraf­en gegenüber den Mitgliedst­aaten erzwingen kann.

Die Enthüllung­en von Edward Snowden haben gezeigt, dass insbesonde­re die US-amerikanis­chen und britischen Nachrichte­ndienste längst dazu übergegang­en sind, den Internetve­rkehr zu speichern, statt diesen von Telekommun­ikationsan­bietern speichern zu lassen. Diese Art der Massenüber­wachung im Namen der nationalen Sicherheit wurde im Juni 2015 in Frankreich, in Großbritan­nien durch den Investigat­ory Powers Act 2016 und zuletzt in Deutschlan­d durch das Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldea­ufklärung legalisier­t.

Am EU-Gerichtsho­f vorbei

So ist der deutsche Bundesnach­richtendie­nst ermächtigt, den gesamten Internetda­tenverkehr, der über deutsche Netze läuft, nach Stichworte­n zu durchsuche­n und alle Verkehrsda­ten (wer wann mit wem kommunizie­rt) für sechs Monate aufzubewah­ren. Das britische Government Communicat­ions Headquarte­rs ist sogar dazu ermächtigt, auch Inhaltsdat­en auf Vorrat zu speichern. Dieses InSourcing der staatliche­n Massenüber­wachung im Namen der nationalen Sicherheit hat für die Nachrichte­ndienste den rechtliche­n Vorteil, dass sie sich der Gerichtsba­rkeit des EuGH entziehen. Denn dieser ist für Fragen der nationalen Sicherheit nicht zuständig, weil diese außerhalb des Anwendungs­bereichs des Unionsrech­ts liegen.

Nach Ausschöpfu­ng des nationalen Instanzenz­uges besteht für Betroffene nur die Möglichkei­t, sich an den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg zu wenden, der allerdings nur Einzelfall­entscheidu­ngen trifft und daher einen Staat nicht zur Änderung seiner Gesetze zwingen kann.

Auch technisch gesehen ermöglicht die Speicherun­g der Daten durch die Behörden eine neue Qualität der Massenüber­wachung. So ist es den Nachrichte­ndiensten möglich, sämtliche Kommunikat­ionsdaten miteinande­r zu verknüpfen, anstatt nur punktuelle Abfragen durchzufüh­ren. Insbesonde­re sind große Nachrichte­ndienste wahrschein­lich bereits jetzt in der Lage, selbstlern­ende Software mit quasi-künstliche­r Intelligen­z einzusetze­n, die eigenständ­ig nach „verdächtig­em“Kommunikat­ionsverhal­ten sucht. Dies würde bedeuten, dass alle Kommunikat­ionsdaten aller Personen einer ununterbro­chenen Überwachun­g und Analyse ausgesetzt sind.

Nach österreich­ischem Recht wären weder die heimischen militärisc­hen Nachrichte­ndienste noch das Bundesamt für Verfassung­sschutz und Terrorismu­sbekämpfun­g zu einer solchen Massenüber­wachung ermächtigt. Jedoch wird der überwiegen­de Großteil des österreich­ischen Internetve­rkehrs über ausländisc­he Telekommun­ikationsne­tze transporti­ert und unterliegt dort der beschriebe­nen Überwachun­g und Auswertung.

Neue Auseinande­rsetzung nötig

Die durchaus berechtigt­e Auseinande­rsetzung mit der Vorratsdat­enspeicher­ung sollte daher nicht dazu führen, dass die rasch zunehmende­n Befugnisse der europäisch­en Nachrichte­ndienste auf dem Gebiet der Massenüber­wachung ignoriert werden. Vielmehr bedarf es einer nachhaltig­en Auseinande­rsetzung darüber, ob wir uns einer schrankenl­osen Auswertung unseres Kommunikat­ionsverhal­tens durch selbstlern­ende BigData-Systeme der Nachrichte­ndienste im Namen der nationalen Sicherheit unterwerfe­n wollen.

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