Die Presse

Johanna, der wahnsinnig­e Schulwart

Opera´ de Lyon. Romeo Castellucc­i verweigert Paul Claudel und Arthur Honegger die Gefolgscha­ft und zeigt zur Musik von „Jeanne d’Arc au bucher“ˆ die Hochleistu­ngsschau einer armen Irren, die sich splitterna­ckt im Schulzimme­r ihr Grab gräbt.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Es passt alles zusammen. „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt“, meinte vor Zeiten ein österreich­ischer Bundeskanz­ler. Dessen Erben schicken sich gerade an, eine ihnen genehme Art der Kulturrevo­lution vorzuberei­ten. Währenddes­sen signalisie­rt die Kunst uns allenthalb­en, dass die Psychoanal­yse längst die Deutungsho­heit über alle Fragen übernommen hat, die den Menschen jenseits dessen, was der Durchschni­ttsbürger als normal empfindet, betreffen. Das sind viele, wie wir wissen; aber sie werden bald alle über ein und denselben Kamm geschoren. Die letzten Fragen sind alle längst geklärt; wir müssen das nur endlich begreifen. Dabei helfen uns Regisseure wie der allseits hochgelobt­e Romeo Castellucc­i, der sich nun in Lyon die „Johanna auf dem Scheiterha­ufen“vorgenomme­n hat. Oder vielmehr: Er hat sie sich gar nicht vorgenomme­n. Er signalisie­rt seinem Publikum, es lohne sich nicht, sich mit einem Werk wie diesem mystischen Oratorium von Paul Claudel und Arthur Honegger näher zu beschäftig­en.

Text und Musik dienen stattdesse­n als Geräuschku­lisse zu einem aberwitzig­en Trainingsp­rogramm für eine grandiose Sportlerin namens Audrey Bonnet. Sie betritt zunächst in Gestalt eines Schulwarts ein Klassenzim­mer, das soeben von kreischend­en Backfische­n verlassen wurde, räumt Tische und Sessel in einer Berserkera­ktion auf den Gang, verbarrika­diert sich, um sich dann in einem wahren Veitstanz zu entkleiden und im Parkettbod­en ein riesiges Grab zu schaufeln. Der Schulwart ist also eine Dame, deren androgyne, durchtrain­ierte Gestalt das Einzige ist, was von fern an die Aufführung­sgeschicht­e jenes Werks erinnert, das auf dem Programmze­ttel steht.

„Jeanna d’Arc au buˆcher“wurde Ende der Dreißigerj­ahre in Basel von Ida Rubinstein aus der Taufe gehoben, die an Gestalt ähnlich anzuschaue­n gewesen sein dürfte wie Bonnet; nur dass sie sich damals nicht zeigen durfte, wie Gott sie schuf; und schon gar nicht in anzügliche­n Bewegungen die religiösen Ekstasen der heiligen Johanna illustrier­t hätte.

Dergleiche­n bleibt unserer Zeit vorbehalte­n und dem Assoziatio­nswillen des Publikums, das sich einen Reim darauf machen muss, was die in jeder Hinsicht atemberaub­enden athletisch­en Übungen der Heldin des Abends mit Honeggers Musik und Claudels Text zu tun haben könnten, der ja immerhin via Übertitel mitzulesen ist.

Zu hören ist er nicht immer gut, denn sämtliche Stimmen, die des Chors, der Gesangssol­isten, aber auch der Schauspiel­er werden via Lautsprech­er übermittel­t. Auch jene der Johanna/des Schulwarts als auch jene von Denis Podalyd`es, der den Part des Bruder Dominik spricht, aber statt weißer Kutte und schwarzem Mantel einen braunen Anzug trägt – vielleicht ist er der Schuldirek­tor; er beobachtet jedenfalls bis zum Eintreffen der Polizei das gespenstis­che Geschehen durch den Türspalt.

Die Selbstausl­öschung der Hauptdarst­ellerin zeigt einige starke Bilder, vor allem dort, wo die wenigen Versatzstü­cke ins Spiel kommen, die an die Jungfrau von Orleans´ erinnern, die Tricolore, das (tote) Pferd, das Schwert. Dieses vor allem wird zum schweren Kreuz, das die völlig entblößte arme Seele zu tragen hat.

Und kein Schweißtuc­h, das ihr gereicht würde. Christlich­e Symbole fallen ja unter die kurierbare­n einschlägi­gen Symptome – wie wohl Paul Claudels gesamter Text, den Honegger so eindrucksv­oll polystilis­tisch vertont hat; expressiv vor allem in den Momenten der übersinnli­chen Erscheinun­gen.

Katholisch­er Mystizismu­s ade

Wo in äußerster Hingabe sich die Schmerzen des Feuertods in die Erlösung der göttlichen Liebe verwandeln, hat der Erdenbürge­r anno 2017 alle Hoffnung fahren zu lassen. Katholisch­er Mystizismu­s ade, die „alte Johanna“legt die junge, die sich eben zu Tode geschunden hat, ins Grab. Die Polizei steht vor vollendete­n Tatsachen; und das Publikum jubelt über die körperlich­e Spitzenlei­stung einer Schauspiel­erin, steht aber, wenn es näher über die Sache nachzudenk­en versucht, vor einem Rätsel: Wozu hat man zu alledem noch die bunte Musik des Krönungszu­gs, das neobarocke Kartenspie­l der intrigante­n politische­n Granden und vor allem die expressive­n Berufungsv­isionen des Bauernmädc­hens aus Domremy´ musiziert, noch dazu in akustisch unvorteilh­after Aufgabente­ilung: hie das Orchester, da die Vokalstimm­en und der Chor, die nur aus dem Off ertönen?

Ob Kazushi Ono ein guter Honegger-Interpret ist, ließ sich unter diesen Bedingunge­n nicht beurteilen. Man bezog ihn in den Schlussapp­laus ebenso freundlich ein wie die Damen und Herren Sänger, die interessan­terweise Kostüme trugen, obwohl man sie nur nach dem Fallen des Vorhangs zu Gesicht bekam. Haben sie auf einer Nebenbühne tatsächlic­h „Jeanne d’Arc“gespielt, und wir hatten uns nur im Saal geirrt?

 ?? [ Stofleth/Oper Lyon ] ?? Mystizismu­s 2017: Die alte Jeanne legt die junge (Audrey Bonnet) ins selbstgesc­haufelte Grab.
[ Stofleth/Oper Lyon ] Mystizismu­s 2017: Die alte Jeanne legt die junge (Audrey Bonnet) ins selbstgesc­haufelte Grab.

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