„Hat viel mit Marquis de Sade zu tun“
Interview. Isabelle Huppert über ihre extreme Rolle im Film „Elle“, der kommende Woche in Österreich anläuft, die Lust, Grenzen zu überschreiten, und das Verhältnis zu ihren Lieblingsregisseuren. Und über ihre eigene Art von Feminismus.
Isabelle Huppert spricht im „Presse“Gespräch über ihre extreme Rolle im Film „Elle“.
Die Presse: In „Elle“spielen Sie eine Frau, die in ihrem Haus von einem unbekannten, maskierten Mann vergewaltigt wird – und nicht zur Polizei geht, sondern ihr eigenes Spiel beginnt. Das hat Ihnen einen Golden Globe und eine Oscar-Nominierung beschert. Sie haben um die Rolle der Mich`ele gekämpft, hört man, selbst auch die Verfilmung des Romans von Philippe Dijan angeregt. Isabelle Huppert: Es stimmt, in gewisser Weise musste ich darum kämpfen. Ich bin froh, dass ich es getan habe.
Was mochten Sie von Anfang an so sehr an der Figur der Mich`ele? Wissen Sie, das Wichtige bei Filmen sind für mich nicht so sehr die Charaktere, sondern die Situationen. Und davon gab es viele, die mich fasziniert haben. Ich mochte das Vielschichtige an ihnen, auch das reiche Geflecht an menschlichen Beziehungen. Da ist die Beziehung von Mich`ele zu ihrer Mutter, zu ihrem Vater, zu ihrem Liebhaber, zu ihrem Exmann, zu ihrer Freundin, zu ihrem Sohn, zu ihrem Vergewaltiger. All diese Beziehungen zusammen definieren Mich`ele und geben der Geschichte eine große Tiefe. Es ist eine Geschichte, die ganz real erscheint, und zugleich als pure Fantasie.
Sind Ihnen deswegen Charaktere im Film nicht so wichtig, weil Ihnen der Begriff Charakter zu eindimensional psychologisch ist, weil er Berechenbarkeit suggeriert? Genau. Der Begriff hat etwas Willkürliches.
Mich`ele sei eine postfeministische Frau, haben Sie einmal in einem Interview gesagt. Was meinen Sie damit? Ich finde, sie verhält sich nicht wie ein typischer feministischer Charakter, sofern es so etwas überhaupt gibt, der Feminismus ist ja eine Theorie. Sie ist weder Opfer, noch ist sie ein klassischer Rächer – Letzteres wäre eher ein männliches Muster. Die Art und Weise, wie sie die Rache an ihrem Vergewaltiger plant, würde ich auch nicht als feministisch ansehen. Mich`ele befindet sich dazwischen, in gewisser Weise ist sie ein Prototyp – ein pures Geschöpf der Fantasie ihres Autors, Philippe Djian.
Mich`ele hat eine traumatische Vergangenheit, als sie ein Kind war, wurde ihr Vater zum Massenmörder. Sehen Sie sie eher als gebrochene oder als starke Frau? Ich sehe sie ständig als Schwarz und Weiß zugleich, sie ist beides. Die klassischen Grenzen zwischen Frau und Mann sind im Film andauernd verwischt. Mich`ele ist in vieler Hinsicht der Mann in der Geschichte. Sie ist es zum Beispiel, die das Geld gibt, ihrer Mutter, ihrem Sohn . . . Die Männer im Film erscheinen im Gegensatz zu ihr als schwach.
Dem Regisseur von „Elle“, Paul Verhoeven, wurde im Lauf seiner Karriere immer wieder Misogynie vorgeworfen. Das ist auch nun wieder der Fall, Feministinnen haben den Film sehr kritisiert, mit einem überaus schweren Vorwurf: Er legitimiere Vergewaltigung . . . In „Elle“ist völlig klar, dass Vergewaltigung ein Verbrechen ist. Es fehlt darin nur die übliche Strafe. Ja, der Film flirtet immer mit der Irritation, der Verunsicherung, aber letztlich behält er seine Integrität. Die negativen Kommentare waren auch sehr vereinzelt. Grundsätzlich haben die Leute den Film verstanden.
Sie hatten kürzlich eine Lesung aus Werken des Marquis de Sade in Paris. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen „Elle“ und Sades Blick auf den Menschen? Ja, natürlich. Sade macht deutlich, dass jeder Mensch aus Gutem und Bösem gemacht ist. Es ist Zufall, dass ich gerade jetzt eine Sade-Lesung gehalten habe, aber tatsächlich hat „Elle“viel mit Sade zu tun, mir wurde das beim Lesen bewusst. Sade ist ein Genie. Niemand ist nur gut und nur böse, und heutzutage sind die Grenzen im Film Gott sei Dank viel weniger klar als vor 30 Jahren. Es ist heute eher möglich, die Figuren sich zwischen den Polen bewegen zu lassen.
Haben Sie in Ihren Gesprächen mit Verhoeven viel über diese Grenzüberschreitungen des Films gesprochen? Nein, wir haben, was den Film angeht, überhaupt nichts miteinander besprochen. Wir waren von vornherein in totaler Übereinstimmung, nicht nur, was die Bedeutung des Films angeht, sondern auch die Art und Weise, wie er gemacht werden soll.
Paul Verhoeven sagte, Sie und er hätten den Charakter der Mich`ele gemeinsam entwickelt. Anfangs wusste ich wirklich nur, dass ich den Film machen will, ich hatte noch keine Ahnung, wie. So geht es mir meist mit großen Filmen, mit großen Regisseuren. Es ist eine neue Erfahrung, ein Experiment, in dem man nichts vorhersehen kann. Würden wir vorher planen, dass Mich`ele dies und das und so und so tun soll, der Film wäre tot. Paul hat nie ein einziges Wort darüber gesagt, wir haben nicht diskutiert. Wir haben es einfach gemacht. Können Sie versuchen zu beschreiben, wie Ihre Figuren entstehen? In diesem Fall habe ich den Roman „Oh . . .“von Philippe Djian gelesen und Mich`ele vor mir gesehen. Filmemachen bedeutet für mich, Wirklichkeiten sichtbar machen. Manche Menschen tun sich schwer damit, das zu verstehen. Sie glauben, dass ein Schauspieler sich an eine Rolle anpassen muss. Nein – als Schauspieler zeigt man im Spiel etwas von sich und teilt das mit anderen Menschen.
Was bringt Sie an einem Drehbuch, an einem Filmprojekt am ehesten dazu, Feuer zu fangen? Die Lust, zu verstehen, die Offenheit für Hypothesen. In „Elle“ist es vor allem die Vergangenheit, die Rolle des Vaters. Gewalt war das Initiationserlebnis des Mädchens Mich`ele, ohne das kann man nicht versuchen, diese Figur zu verstehen. Andererseits verbietet der Film jede eindeutige Antwort, er bietet nur Möglichkeiten an, lässt Lücken. Die kann jeder Zuschauer selbst füllen.
Sie haben in den goldenen Zeiten des französischen Kinos Ihre Laufbahn begonnen, in den 1970er-Jahren, den Hochzeiten eines Claude Chabrol oder JeanLuc Godard . . . Ist es nicht viel schwieriger für Schauspieler geworden, anspruchsvolle Produktionen zu finden? In Frankreich sind wir immer noch privilegiert, allerdings ist es auch hier schwieriger geworden, Qualität zu produzieren. Ich bin trotzdem nicht so pessimistisch wie JeanLuc Godard. Ich bin hier und mache Filme, die mir gefallen. Aber es stimmt, es ist ein harter Kampf geworden, große Filme zu ermöglichen. Können Sie die Regisseure nennen, mit denen Sie am liebsten arbeiten oder gearbeitet haben? Da wir uns hier gerade in Deutschland befinden, fange ich mit Werner Schroeter an, er war mein Freund, ich mochte ihn sehr. Michael Haneke gehört dazu, natürlich Claude Chabrol, auch Paul Verhoeven.
Haben all diese Regisseure in Ihren Augen etwas, was sie verbindet? Michael hat schon einiges mit Chabrol gemeinsam, aber was einen gewissen kühlen Zugang betrifft, kann man ihn auch mit Verhoeven vergleichen. Beide greifen auch zu Übertreibungen, haben die Fähigkeit, sehr weit zu gehen. Keiner von all diesen Regisseuren ist romantisch, und keiner versucht, die Figuren zu idealisieren. Das verbindet sie miteinander.
Jeder Film mit Ihnen wird irgendwie ein Huppert-Film – wie kommt das? Die Leute sagen das, weil meine Figuren sehr im Zentrum stehen und die Regisseure mir die Gelegenheit geben, mich darin ungehindert auszudrücken. So entstehen sehr persönliche Darstellungen, zum Beispiel in der Jelinek-Verfilmung „Die Klavierspielerin“, die ich mit Haneke gemacht habe, oder in neuen Filmen wie Mia Hansen-Loves „Alles, was kommt“. Mit der Frau in diesem Film habe ich vieles gemeinsam, es ist fast wie eine Dokumentation über mich selbst.
Sie haben in Ihrer Laufbahn so viele Regisseure erlebt. Haben diese Erfahrungen Ihre Arbeit sehr verändert? Ich lerne nie aus dem, was ich mache. Ich mache Dinge, weil ich sie gern mache, aber sie verändern mich nicht. Sie machen mir einfach nur Freude.
So viele Schauspieler sagen, Spielen sei wie Suchen in der eigenen Seele, eine Selbsterkundung . . . (Lacht.) Ich weiß, dass sie das sagen. Aber das ist nicht mein Zugang.
Nehmen Sie Einfluss auf das Drehbuch? Manchmal auf die Dialoge, mit denen muss ich mich wohlfühlen. Aber das Drehbuch von „Elle“war perfekt.
Sie haben immer starke Frauenrollen gespielt, was für eine Rolle hat der Feminismus in Ihrem Leben gespielt? Meine Art, feministisch zu sein, bestand darin, zentrale weibliche Charaktere zu verkörpern. Ich war nie bereit, Filme zu machen, in denen ich den männlichen Schauspielern untergeordnet bin. Ich musste aber nie darum kämpfen, ich habe von Anfang an mit außerordentlichen Regisseuren gearbeitet, die mit mir total übereinstimmten, in Filmen, in denen mein Status sehr hoch war und ich jede Freiheit hatte. So gesehen, ist meine filmische Arbeit auch eine Hommage an das Erzählen über Frauen.