Der Stammtisch in der Tankstelle
Weil viele Wirtshäuser schließen, wird der Gastrobereich von Tankstellen vor allem am Land zum Ort sozialer Begegnung. Kommen kann jeder, vom Hofrat bis zum Arbeiter.
Einmal volltanken, bitte“, heißt es heute nur noch selten. Es gibt kaum noch Tankstellen mit Bedienung. Dafür kommen immer mehr Kunden, um im Shop einzukaufen oder im angeschlossenen Gastrobereich ein Achterl zu trinken. Eine Gruppe Männer im Blaumann, die sich nach der Arbeit bei einem Bier unterhielten, fiel dem Grazer Kulturanthropologen Helmut Eberhart vor drei Jahren auf, als er seine Tankrechnung beglich. Als Gasthauskind waren ihm die Szenen vertraut, als Kulturwissenschaftler der Universität Graz weckten sie sein Interesse.
Der französische Anthropologe Marc Auge´ bezeichnete Tankstellen nämlich einst als klassische Nicht-Orte. Das bedeutet, sie seien lediglich Zwischenstationen, an denen sich die meisten Menschen nur kurz und anonym aufhalten, erklärt Eberhart. Daher bildeten sie – wie auch Flughäfen oder Bahnhöfe – keine Identitäten aus.
Der Kulturwissenschaftler entdeckte im Szenario an der Tankstelle aber viele aus Kaffeehäusern, Restaurants und Gasthäusern bekannte Muster. Diese hatte er bereits untersucht, nun beschloss er, gemeinsam mit seinen Studenten die Tankstelle als Ort der sozialen Begegnung näher zu beleuchten. Seine Hypothese: „Die Tankstelle hat heute Beiselcharakter.“
Forschen zwischen Barhockern
Seine Studenten setzten sich zur Erschließung des bislang wissenschaftlich kaum beachteten Themas selbst ins Auto. Sie machten Feldforschung, quasi zwischen Barhocker und Kaffeemaschine. Zunächst beobachteten und befragten sie Tankstellenbetreiber und -kunden in Graz, dann in der ganzen Steiermark. Sie besuchten, teilweise wöchentlich, 24 Tankstellen: von Öblarn im Ennstal über Eggersdorf bei Graz bis zum südoststeirischen Sankt Stefan im Rosental.
„Unsere Annahme, dass die Bedeutung des Tankstellenbeisels vor allem am Land zunimmt, wo das Wirtshaussterben groß ist, be- stätigte sich voll“, erzählt der Forscher. Wie ein Wirtshaus hat auch die Tankstelle ein Stammpublikum, das immer wiederkommt. Für die Tankstellenbetreiber ist das eine willkommene Einkommensquelle. Mitunter sichere sie ihnen das Überleben, so Eberhart. Denn die Treibstoffpreise werden von den Konzernen vorgegeben, die Gewinnspanne ist gering.
Beim Getränkekonsum scheint die Vernunft zu siegen: Weil man noch Autofahren muss, trinkt man meist einen Kaffee oder ein Cola, beobachteten die Studenten. Und die Gesprächsthemen der Gäste? Diese gleichen jenen im Wirts- haus: „Vom Politisieren über die eigenen Tagesthemen bis hin zu Gerüchten über Dritte – alles, was das Leben eben so bringt“, sagt Eberhart. Er war überrascht, wie sehr sich die Szenen im Tankstellenbeisel und Stammtischgespräche im Wirtshaus ähnelten.
Apotheke war erste Tankstelle
Dabei beobachtete er auch eine „Egalisierung der sozialen Hierarchien“: „Ob Hofrat oder Arbeiter – in eine Tankstelle kann Publikum aus allen sozialen Schichten kommen.“Und die Kunden kommunizierten nicht nur untereinander: Ähnlich wie auch der Gastwirt mitunter „Beichtvater“seiner Gäste sei, sei auch das Tankstellenpersonal stark in die Kommunikation eingebunden, so Eberhart. Manche Gäste identifizierten sich so stark mit „ihrer“Tankstelle, dass sie sogar Ansichtskarten aus dem Urlaub schrieben.
Präsentiert werden sollen die Ergebnisse 2019 in einer Ausstellung im Volkskundemuseum des Universalmuseums Joanneum. Darin will man auch von den Studenten gesammeltes Material zeigen. Ein Lohn für die Mühe, denn vor allem für die jungen Frauen gestalteten sich die Recherchen oft schwierig. „Der Umgangston war oft eher rau, sie waren vielfach mit sexistischen Anspielungen konfrontiert“, berichtet Eberhart. Denn die meisten Tankstellen präsentierten sich als Männerdomäne. Frauen waren eher dann unter den Gästen, wenn es in der Umgebung Geschäfte oder Büros gab.
Dabei war es auch eine Frau, die die Geschichte der Tankstelle mitbegründete. Die mit Carl Benz verheiratete Bertha Benz wollte zeigen, dass sich der von ihrem Mann erfundene Motorwagen auch für längere Strecken eignet. Sie fuhr am 5. August 1888 mit ihren beiden Söhnen die rund 106 Kilometer lange Strecke von Mannheim nach Pforzheim. Unterwegs musste sie tanken. Zapfsäulen gab es noch keine. Sie hielt also in Wiesloch bei Heidelberg vor der Apotheke und erstand das Leichtbenzin Ligroin. So wurde der Apotheker quasi zum ersten Tankwart und Bertha Benz zur Pionierin: weil die erste Fernfahrt mit einem Auto gelang.