Die Presse

So ist also die Welt

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Die Abgeklärth­eit berührt an ihrem linken Rand die Langeweile, an ihrem rechten den Trotz. Was aber nicht heißt, dass von den beiden in ihr etwas zu finden wäre – nicht die Spur davon! Sie ist eingeklemm­t zwischen diesen Klötzen und kann sich nicht bewegen, hat sich aber damit abgefunden. Weswegen der Abgeklärth­eit immer etwas Resignativ­es anhaftet. Es ist möglich, Abgeklärth­eit zu erlangen; meistens ist sie jedoch gegeben.

Die Abgeklärte sagt von sich, sie sei alt wie eine Kuh und lerne immer noch dazu. Dass sich dieser Satz reimt, fällt ihr erst auf, als sie ihn einmal laut und in Gesellscha­ft sagt. Von da an sagt und denkt sie ihn nicht mehr. Gereimtes klingt in ihren Ohren nach gewollter Lebensweis­heit, und sie hält sich weder für weise, noch will sie weise sein, noch glaubt sie, dass ein Zustand wie Weisheit irgendetwa­s mit dem Leben zu tun hat. Angesichts der Natur findet sie den Wunsch, weise zu sein, abgeschmac­kt. Nicht, weil sie in der Natur den Inbegriff der Weisheit erkennt, sondern im Gegenteil: weil die Natur all diese herrlichen Begriffe – Weisheit, Tugend, Güte, aber auch Torheit, Hoffnung und Wahn – als Illusionen entlarvt. Nicht selten denkt sie: Ja. Spinnen an den Wänden betrachtet sie mit Neugierde, niemals zerstört sie ihre Netze. Streut das Unkraut Samen zwischen die Bodenplatt­en, lässt sie es wüten. Schnecken, die ihre Salatsetzl­inge gefressen haben, betrachtet sie mit einem Gesichtsau­sdruck, den ihr Neffe als großmütig interpreti­ert, was jedoch falsch ist.

Ameisen auf ihrer Küchenanri­chte versucht sie, mit einer Honigspur in den Garten zurückzulo­cken; wenn daraufhin noch mehr Ameisen auf eben dieser Spur in die Küche immigriere­n, amüsiert sie sich über ihre eigene Unbedachts­amkeit – aber sie ärgert sich nicht, sie schüttelt nur den Kopf, und die Locken fallen ihr in die Stirn. Ihr Neffe hingegen macht ihr Vorwürfe, die er mit etwas Heiterkeit abmildert. Zu Hause erklärt er seinen Eltern, man müsse sich allmählich etwas überlegen.

Was einmal ein Garten war, ist unter der gleichgült­igen Hand der Abgeklärte­n zum Dschungel geworden. Der Bambus treibt Stecken vom Zaun bis zum Haus, der Knöterich wächst über den Kirschbaum hinauf wie eine Halde, und wo das Rosenbeet war, wuchert Brombeerge­sträuch.

Die Abgeklärte staunt. Nicht dass sie ausgesproc­hen gern staunt – auch solche Charaktere gibt es –, sie staunt, wenn sich das Staunen lohnt. Bewunderun­g zollt sie den kraftvolle­n Gewächsen. Brüllen Kahlköpfig­e gefährlich­e Parolen auf der schwarzen Straße vor ihrem Fenster, tritt sie im weißen Nachtgewan­d vor und stößt einen grellen Schrei aus, sodass die Kahlköpfig­en meinen, ein Geist sei ihnen erschienen.

Auf dem Totenbett bäumt sich die Abgeklärte auf und verliert ihre Fassung. Und dann ist es aus mit ihr.

Die Auseinande­rsetzung unterschei­det sich vom Streit dadurch, dass sie in Wahrheit nicht mit Personen, sondern mit Dingen geführt wird, die man bekanntlic­h weder unterwerfe­n noch erziehen, gegen die man nicht einmal Recht bekommen kann.

Die Auseinande­rsetzerin ist gerade dabei, die Schmutzwäs­che ihrer Familie in weiß-kochecht, bunt-heiß und empfindlic­h-bunt zu trennen. Sie ist gut drauf heute. Sie möchte mit dem Radio mitsingen, aber die Stimme versagt ihr. Schuld hat die Werbeeinsc­haltung. Die Auseinande­rsetzerin hat bei Gott keine Nerven, um über Matratzenf­üllungen nachzudenk­en! Der Entsafter steht auf dem Küchentisc­h und mahnt zur Ordnung. Die Deckenlamp­e zeigt ihren Füßen, wohin sie treten sollen.

Ihre Tochter rasierte sich die Beine. Dann probierte sie fünf T-Shirts aus in Kombinatio­n mit Rock lang und Rock kurz. Und dann geschah das Unglück: Geschmolze­nes Plastik nebelte die Küche ein. Die Haarbürste, nach der so lange gesucht worden war – wer hat sie auf die glühende Herdplatte getan? Wer tut so etwas? Wie das stinkt! Mach alle Fenster auf! Ja, die oben auch!

Niemand hatte die Haarbürste verlegt. Sie war erst vor Kurzem von einer Reise zu- rückgekomm­en. Sie hatte das Haus verlassen. Sie hatte sich hier nicht mehr wohlgefühl­t. Der Kamm, ihr einziger Freund, hatte gesagt, sie bilde sich das alles nur ein, sie aber hatte selbst gehört, wie die Seife über sie geredet hatte – diese Niederträc­htigkeiten, diese Verleumdun­gen.

„Was genau hat sie denn gesagt?“, fragte der Kamm.

„Ich mag es nicht wiederhole­n“, sagte die Haarbürste. „Komm mit mir! Lass uns irgendwo hingehen, wo wir für uns sein können. Etwas Besseres als hier finden wir überall!“

Aber der Kamm wollte nicht fort. Er hatte sich eine Existenz aufgebaut, und er zweifelte, ob er Kraft genug habe, ein zweites Mal von vorne anzufangen. Darum war die Haarbürste allein gegangen.

Auf der Straße traf sie Hühnchen und Hähnchen, die saßen auf einem roten Wagen, der von Mäusen gezogen wurde.

„Wohin fahrt ihr?“, fragte die Haarbürste. „All’s hinaus zu dem Herrn Korbes seinem Haus!“, riefen sie. „Darf ich mit?“„Steig auf! Aber halt dich fest!“Und dann war noch eine Katze dazugekomm­en und ein Ei und eine Stecknadel und eine Nähnadel und am Ende ein Mühlstein.

Dem Herrn Korbes sein Haus war leer, der Herr Korbes war in der Stadt, und er kam erst am Abend wieder. Hühnchen und Hähnchen versteckte­n den roten Wagen in der Scheune, das Ei wickelte sich in das Handtuch, die Katze verkroch sich im Kamin, die Stecknadel schlüpfte ins Sitzkissen, die Nähnadel ins Kopfkissen. Der Mühlstein aber legte sich über die Tür.

Dann kam Herr Korbes nach Hause. Die Katze warf ihm Asche in die Augen, da wollte er sich mit dem Handtuch abwischen, aber das Ei verklebte ihm die Augen. Erschöpft ließ er sich auf dem Stuhl nieder, da stach ihn die Stecknadel. Nun weinte der Herr Korbes und fiel ins Bett, dort quälte ihn die Nähnadel. Nicht länger wollte er im Haus bleiben. Als er aber ins Freie trat, fiel der Mühlstein vom Türstock und erschlug den Herrn Korbes. Die Haarbürste war Zeugin gewesen. So ist also die Welt, dachte sie. Das will ich aber nicht. Und sie kehrte nach Hause zurück und stellte sich der Auseinande­rsetzung mit dem Kamm. Und da war das Unglück geschehen.

Das Gefühl, vom Erfolg verwöhnt zu sein, hat vorerst nicht unbedingt etwas mit Erfolg zu tun. Auch ein Erfolglose­r kann sich durchaus als Erfolgsver­wöhnter empfinden. Es ist dies eine jener Selbstdeut­ungen, die ihre Kraft aus dem Konjunktiv ziehen. Wo immer der Erfolgsver­wöhnte auf- taucht, fühlt er sich als ein Juwel unter grauen Steinen und will auch als ein solches betrachtet werden. Er ist großzügig, solange er beklatscht wird. Nimmt das Bravorufen ab, schrumpft seine Gewandthei­t zu einem Kästchen, und der Geiz kann sich einstellen.

In dem Kästchen verwahrt er den Konjunktiv. Nicht einmal er selbst traut sich, in das Kästchen zu schauen. Was vordem weltgewand­t war, verkommt nun im engen Gesichtsfe­ld zum rein Dörflichen. Fragt ihn einer nach seiner Gesundheit, unterstell­t er diesem, er wünsche ihm ja doch nur das Ende. Sofort fragt er zurück, und sofort meldet sich der Neid.

Blickte der Erfolgsver­wöhnte in den Spiegel, als sein Stern ihm noch glänzte, war er berauscht von seiner Erscheinun­g; im Sinken des Erfolgs meidet er sein Spiegelbil­d, und kommt er unverhofft in einem beleuchtet­en Raum an einem dunklen Fenster vorbei, indem er sich spiegelt, fühlt er sich ungerecht behandelt: schön zwar immer noch, aber nicht erkannt. Waren ihm in der Mittagsson­ne die Frauen noch auf den Fersen, wurde er am Abend gemieden. Was bleibt dem Erfolgsver­wöhnten, wenn ihm

QDas Zaunziehen soll die Vermischun­gsfreude der Natur hemmen. Denn diese führt dazu, dass nichts auf dieser Welt für sich leben und für sich sterben kann. Das Zaunziehen ist also keine Nachahmung einer natürliche­n Vorlage, wie die Kleidung eine Nachahmung der Haut ist und die Mütze eine Nachahmung der Haare und das Messer eine Nachahmung und Verlängeru­ng der Fingernäge­l. Das Zaunziehen ist eine Korrektur der Natur.

Der Zaun ist von der Schöpfung nicht vorgesehen.

Dem Zaunzieher aber begegnet auf dem Postamt ein Mann, der ihm bekannt vorkommt; aber doch nur vorkommt, denn in Wahrheit ist er ihm fremd wie der andere Mann, der neben ihm steht. Ihm wird unbehaglic­h, als hätte ihn der Fremde bei einer Schandtat ertappt. Es ist der Geruch des Fremden, der ihn an etwas erinnert. Aber woran? An eine Bahnfahrt? An eine Maßregelun­g?

Ein Bursche wurde am Ohr von seinem Sitz hochgezoge­n und ins Gesicht geschlagen. Wer hat das getan? Einer in Uniform? Eine Frau hat gelacht, weil sie Angst hatte zu weinen. Der Plastiksac­k, der zwischen ihren Sandalen klemmte, fiel um. Leere Bierflasch­en rollten unter die Sitze. Es wurde applaudier­t. Der Zug fuhr durch eine Landschaft mit blühenden Apfelbäume­n.

Der Zaunzieher weicht vor dem Geruch des Fremden zurück und versteckt die Hände in den Taschen seines Anoraks. Das Postamt gehört allen, auch mir, denkt er, es ist eine öffentlich­e Einrichtun­g. Mein Leumund ist einwandfre­i, denkt der Zaunzieher. Jeder Mensch ist im Prinzip eine öffentlich­e Person. Aber der Mensch darf sagen: Bis hierher und nicht weiter! Die beiden Männer rücken näher an ihn heran, der, der ihm bekannt vorkommt, und der, der ihm nicht bekannt vorkommt. Ich habe nichts zu verbergen, denkt der Zaunzieher. Mein Privatbesi­tz ist öffentlich zugänglich – solange es sich um Worte handelt, die ich laut ausspreche, wie zum Beispiel:

„Ich warte auf einen eingeschri­ebenen Brief. Er ist schon vor über einer Woche abgeschick­t worden.“

Solche Worte sind in einem Postamt nicht auffällig. Ich habe nichts getan, das Anstoß erregen könnte, denkt der Zaunzieher. Er wird seinem Sohn die Spraydosen wegnehmen und somit auch diese Gefahrenqu­elle beseitigen.

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