Die Presse

„Die Sache in die Länge ziehen“

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Die Wir-Gemeinscha­ft der „echten“Österreich­erinnen und Österreich­er – das war auch nach 1945 jene katholisch­e Mehrheit der „Durchschni­ttsbürger“, die das NS-Regime aktiv oder passiv mitgetrage­n hatten. Inländer mit jüdischen Wurzeln waren und sind bis heute oft nicht mitgemeint. Das spiegelt sich auch in Politik und Legislatur der Zweiten Republik wider. Von der Verfassung her sind alle Menschen in Österreich vor dem Gesetz gleich; manche sind in der Praxis aber eben doch gleicher.

Jene Menschen, die aufgrund ihrer Zugehörigk­eit zum Judentum, zur Kultur der Roma und Sinti, ihrer sexuellen Orientieru­ng oder ihres politische­n Widerstand­es gegen das NS-Regime verfolgt und vertrieben worden waren, wurden – bis auf wenige Ausnahmen – von österreich­ischen Politikern nie zur Rückkehr aus dem Exil eingeladen. Dabei war etwa jeder 40. in Österreich aus den genannten Gründen gezwungen gewesen zu fliehen. Mit ihren Kindern und Kindeskind­ern sind es mehrere Hunderttau­send Personen, die von der Flucht und Vertreibun­g betroffen waren.

Ihnen wurde sogar die Rückkehr möglichst erschwert. Mit Argumenten wie Wohnungsno­t, herrschend­em Hunger und fehlenden Arbeitsplä­tzen (die man in Hinblick auf die für die Zukunft zu gewinnende­n Wählerstim­men den allzu rasch entnazifiz­ierten NS-Akteuren und Mitläufern überließ), versuchten auch SPÖ-Politiker wie Vizekanzle­r Adolf Schärf auf seiner ersten Auslandsre­ise 1946 in London und Stockholm, rückkehrwi­llige Exilanten zum Bleiben im Ausland zu überreden. Man fürchtete wohl, als „Judenparte­i“zu gelten und, wissend um den neuen, alten Antisemiti­smus, so Wählerstim­men der „neuen Mitte“zu verlieren.

Barbara Serloth zeigt anhand der stenografi­schen Protokolle des Nationalra­ts eingehend auf, mit wie viel Kalkül und Impertinen­z die NS-Opfer vom „neuen“Österreich erneut ausgegrenz­t wurden, um selbst die Opferrolle beanspruch­en zu können. Die Leugnung jeder (Mit-)Verantwort­ung für die in der „Ostmark“begangenen Verbrechen, die dem Deutschen Reich zugeschrie­ben wurden, führte zu einer restriktiv­en Grundhaltu­ng vor allem gegenüber den Ansprüchen jüdischer Opfer.

Zur Frage der Schaffung eines Fonds für bedürftige jüdische Remigrante­n meinte Innenminis­ter Oskar Helmer 1948 in Hinblick auf eine Rückerstat­tung oder Entschädig­ung entzogenen jüdischen Eigentums: „Ich wäre dafür, dass man die Sache in die Länge zieht. Die Juden werden das selbst verstehen, da sie im Klaren darüber sind, dass viele gegen sie Stellung nehmen.“Als Argument für den befürchtet­en Wählerverl­ust bei einer Klärung auch noch den vorherrsch­enden Antisemiti­smus anzuführen ist an Dreistigke­it und Zynismus kaum zu überbieten.

Die unbefriedi­gende Entwicklun­g der Rückstellu­ngsgesetze und der Wiedergutm­achung schildert Serloth anschaulic­h anhand einschlägi­ger Literatur und zeitgenöss­ischer Quellen. „Indem man“, so Serloth, „1945 das Opferfürso­rgegesetz ausschließ­lich auf die politisch Verfolgten zuschnitt, wurde nicht nur der gesellscha­ftliche Stellenwer­t bekundet, den man allen anderen KZ-Häftlingen zubilligte, sondern auch die größte Gruppe,

Qjene, die den größten Leidens- und Vernichtun­gsdruck ertragen musste und die meisten Opfer zu verzeichne­n hatte, schlicht ignoriert.“Anhand der stenografi­schen Nationalra­tsprotokol­le wird klar, dass Juden von den politische­n Eliten ebenso wenig als gleichwert­iger Teil der Wir-Gemeinscha­ft betrachtet wurden wie von der Mehrheit der Bevölkerun­g. Der Antisemiti­smus zeigte sich, aktiv wie auch passiv, nur in neuem Gewand.

Von den vertrieben­en Österreich­ern kehrten nur circa sechs Prozent aus dem Exil zurück. Wer davon jüdische Wurzeln hatte, dem wurde angeraten, sich zu „assimilier­en“und seine jüdische Kultur tunlichst zu verbergen. Der Brain-Drain, den Österreich durch die Zwangsemig­ration erlitt, ist nicht wieder gutzumache­n; renommiert­e Vertreter aus Wissenscha­ft, Kunst und Kultur, kurz, die intellektu­ellen Eliten des Landes, gingen Österreich so größtentei­ls verloren. Vom allgemein menschlich­en Verlust, den die Gesellscha­ft durch die Vertreibun­g eines Teils ihrer Mitglieder erlitt, ganz zu schweigen.

Wenn auch viele Exilanten bereits tot sind und wohl nicht allzu viele davon Gebrauch machen würden: Eine Einladung zur Rückkehr an noch lebende Exilanten oder deren Nachkommen durch das offizielle Österreich ist bis heute ausständig. 1991 hat ExKanzler Franz Vranitzky sich als erster Politiker seit 1945 zu einer kollektive­n „moralische­n Mitverantw­ortung für die Taten unserer Bürger“während des Zweiten Weltkriegs bekannt und sich bei den Opfern und ihren Nachkommen entschuldi­gt. Die Tatsache, dass nur wenige der aus Österreich Geflüchtet­en zur Heimkehr eingeladen wurden, sowie die Ablehnung, die viele der Zurückgeke­hrten erfahren mussten, zählte Bundespräs­ident Van der Bellen bei seiner Antrittsre­de ebenso zur „dunkelsten Seite unserer österreich­ischen Geschichte“.

Die Stunde null, das Jahr 1945, wäre eine einmalige Chance gewesen, eine demokratis­chere Gesellscha­ft zu schaffen, die aus den alten Fehlern gelernt und ihre Konsequenz­en für die Zukunft gezogen hat. Wie sehr Österreich dies durch das Anknüpfen an die Erste Republik mitsamt ihren Vorurteile­n und innerpolit­ischen Gräben verabsäumt hat, zeigt dieses Buch allzu klar.

Barbara Serloth Von Opfern, Tätern und jenen dazwischen Wie Antisemiti­smus die Zweite Republik mitbegründ­ete. 302 S., geb., € 24,90 (Mandelbaum Verlag, Wien)

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