Peter Huemer: Wenn sich alles dreht
die allzu simpel für politische Überzeugungen oder moralische Positionen werben. Damit ist nicht das Ende der engagierten Literatur erreicht, sondern nur das Ende der simpelsten Version engagierter Literatur, einer Literatur, die den Leser beleidigt, weil sie ihm eine festgelegte politische Interpretation des Textes förmlich aufzwingt.“
Und nun wenden wir uns im Lichte dieser Feststellung wieder dem „Opernball“zu, und zwar der Figur des Bezirksinspektors Fritz Amon, dem die besondere literarische Zuneigung des Autors gilt, indem dieser ihn in besonderer Weise abscheulich findet – und mit sprachlichem Witz auch so zeichnet. Natürlich schimmert hier durch, was den Roman zwar nicht insgesamt prägt, was aber doch gerade in der Figur des Revierinspektors deutlich wird: dass Josef Haslinger ein österreichischer Linker ist. Gleichzeitig – und das gehört zur literarischen Qualität des Romans – erleben wir den Widerling auch als Opfer des Systems, dem er dient: gemeinsam mit den Kollegen in einem desolaten Wachzimmer, dessen Umbau nicht und nicht fertig wird, weil die vorgesetzte Behörde sich nicht darum kümmert und damit ihre Verachtung für die Untergebenen zum Ausdruck bringt.
Das hat Fritz Amon auch verstanden und sagt aufs Band: „Eine Beschwerde über den Vorgesetzten ließ man besser gleich bleiben. Denn sie verkehrte sich auf dem Dienstweg ins Gegenteil. Ich habe es natürlich nie getan, aber den Ablauf stelle ich mir so vor: Zunächst müsste ich die Beschwerde unserem Postenkommandanten geben, der würde, auch wenn sie milde abgefasst ist, als Erstes den Dienstplan ändern und mir so viele Journaldienste wie möglich aufbrummen, dann würde er viele Telefonate führen.“Und der Personalvertreter „würde meinen Namen auf jener Liste vermerken, die immer dann konsultiert wird, wenn es für anstehende Beförderungen und Belobigungen gewisse Rückstellungsgründe gibt“.
Und was sind die Vergünstigungen in diesem System? Nochmals Amon: „Wenn sich zum Beispiel jemand von außen beschwert, sagen wir, dass er behauptet, er sei geprügelt worden – die nennen das dann gleich Folter –, wird der Dienstweg zum Schutzschild. Da hat keiner eine Chance. Da müsste einer schon eigenhändig sieben Giftler erwürgen.“
Das heißt – laut Haslinger: Die so massiv gedemütigten und gleichzeitig vom System geschützten Polizisten geben die Aggression, der sie ausgesetzt sind, nach unten weiter. Und je wehrloser das Opfer, umso besser. Haslinger beschreibt das Abstoßende und Bedrohliche kaum kontrollierter Macht und entwickelt eine literarische Figur in ihrer ganzen Erbärmlichkeit. Und lässt dann aber doch auch das Erbarmungswürdige an diesem Revierinspektor erkennen. Zum Beispiel während der wütenden Demonstration am Abend des Opernballs: Vom Gegner eingekreist, mit Pflastersteinen bedroht, wie „Kanonenfutter“kommt er sich vor, „während die am Opernball Weltoffenheit spielen“. Und dann die Angst, die er nicht zeigen darf, weil er sonst bei den eigenen Leuten als „Hosenscheißer“gilt. Und dazu die hämmernden Sprechchöre der Gegenseite. Der Inspektor hat sie im Ohr: „Den ganzen Abend waren wir immer wieder als Faschisten bezeichnet worden, als die Mörder oder schlichtweg als Schweine. Man warf mit Steinen nach uns, mit Verkehrsschildern, Bierflaschen, dann mit Eisenschellen, Latten und Brettern von einer Baustelle in der Margarethenstraße. Wenn man ständig herausgefordert wird, sich aber ständig vorsagen muss, ruhig, ruhig, die wollen dich nur herausfordern, entsteht irgendwann der brennende Wunsch in dir, endlich Ernst zu machen. Die Grenze ist hauchdünn. Diesseits bist du ein guter Polizist, jenseits bist du ein Krimineller. Normalerweise, wenn man in Ruhe drüber nachdenken kann, kennt man diese Grenze. Wenn es hart hergeht, verliert man sie aus den Augen. Gewöhnlich passiert dann nichts. Hat man halt einen bewaffneten Kriminellen erschossen. Das ist nicht weiter schlimm. Die Zeitungen stehen in so einem Fall felsenfest hinter dir. Die Gerichte fragen nicht nach.“
Das Großartige an dieser Szene ist der Kippeffekt. Zuerst erfahren wir die Gefahr, der unser Polizist ausgesetzt ist. Und wie geradezu übermenschlich die Anstrengung ist, Ruhe zu bewahren. Und dann erfahren wir aber auch, was passiert, wenn er durchdreht und kriminell wird, nämlich: nichts. Das System schützt ihn. So wird uns dieser Mensch sowohl in seiner Abhängigkeit als auch in seiner Gemeinheit beschrieben. Und das eine ist nicht vom andern zu trennen.
Ganz wichtig bei „Opernball“ist die Sprache. Je nach Erzählerin oder Erzähler spielt der Roman auf verschiedenen Sprachebenen, und das ist ein besonderer literarischer Reiz. Die dadurch entstehenden unterschiedlichen Erzählstränge bedingen nicht nur, dass immer wieder im zeitlichen Ablauf hin- und hergesprungen wird. Sie bedingen auch, dass der Roman ein hoch komplexes Gewebe ist. Wer daher die darin erzählte Geschichte chronologisch mitteilen wollte, dürfte sich keineswegs am Ablauf des Romans orientieren, weil der mit dem späten Höhepunkt, der Katastrophe in der Oper, beginnt. Davor ist viel passiert, was wir lesend erst nachher erfahren. – Festzustellen ist auch, dass der Mord in der Oper weder drastisch noch ausführlich beschrieben wird, sondern im Gegenteil recht zurückhaltend. Und ich erinnere mich, vor mehr als 20 Jahren Josef Haslinger gefragt zu haben, ob das mit dem Gas in der Oper technisch überhaupt so möglich sei. Seine Antwort habe ich mir gemerkt: Er wisse es nicht, und es habe ihn auch nicht interessiert. Das fand ich großartig. Glaubwürdig muss die Sprache sein, glaubwürdig müssen die Personen sein, glaubwürdig muss ihr Verhalten sein. Darauf kommt es an. Im Gespräch mit Francois¸ Truffaut erklärte Hitchcock, wir sollten als Erzähler der Wahrscheinlichkeit nicht erlauben, „ihr hässliches Haupt zu erheben“.
Was Sie in diesem Roman ganz nebenbei auch erfahren: mit welchen Worten ein Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies auf dem Opernball seinen obersten Ordenschef begrüßt; wie ein Wiener Polizist ein Schnitzel isst; ob es klug ist, Ostgeschäfte mit Hilfe von gestürzten österreichischen Politikern und deren Kontakten zu machen; wie Bundespräsident und Bundeskanzler um Protokollfragen streiten: Wer begrüßt wen, wer kommt womit ins Bild? Und natürlich gibt es Baumeister auf dem Opernball. Wie sie sich benehmen, erfahren Sie auch.
Zudem ist „Opernball“ein Schlüsselroman über die frühen Neunziger in Österreich mit heiteren Hinweisen, die manchmal knapp an der Grenze zum Albernen liegen, etwa, dass der Anführer der Nationalen Partei Jup Bärenthal heißt. Wer jene Familienministerin war, die die Gattin des damaligen amerikanischen Präsidenten, Hillary Clinton, in ihrer Opernballloge begrüßen wollte (vergeblich), wissen wir nicht mehr – müssten wir nachschauen. Wer aber damals Kulturminister war, im Roman ausdrücklich gelobt wird, daran erinnern wir uns. Wer sich – allerdings ein Vierteljahrhundert früher – von seiner Gefährtin an der Leine als Hund durch die Stadt führen ließ und mit dieser Aktion viel Empörung bei Passanten ausgelöst hat, wissen wir auch. Und so fort. So können Sie, wenn Sie wollen, ein heiteres Personenraten anstellen. – Darüber hinaus, da die Zentralfigur des Romans der Kriegsberichterstatter Kurt Fraser ist, erfahren wir auch erschreckende und kriminelle Details aus den Kriegen der Zeit, dem ersten Irakkrieg und dem Bürgerkrieg in Bosnien. Durch die Figur dieses Kriegsreporters gewinnen wir wie mit Blitzlicht Einblick in ein zeithistorisches Panorama. Und da Kurt Fraser Regisseur der Übertragung vom Opernball ist und da sein Sohn als Kameramann dabei ums Leben kommt, macht Fraser sich nachher daran, die Hintergründe des Attentats aufzuklären und auf Tonband jene Zeugenaussagen einzuholen, die wesentlicher Bestandteil von Haslingers Roman sind. Und daraus ergibt sich: Wer die Täter waren, wissen wir früh: eine kleine Gruppe von halb religiösen, halb faschistischen Spinnern zwischen Bibel und „Mein Kampf“, geführt von einem schwer durchschaubaren Charismatiker, durchdrungen von Ausländerhass und von nationalsozialistischen Ideen, die aber gleichzeitig Wert darauf legt, keine Neonazigruppe zu sein. Und das ist sie genau genommen auch nicht – trotz der zwei Achter auf dem Finger. Josef Haslinger ging da in seinen historischen Überlegungen beim Konstruieren der „Bewegung der Volkstreuen“bis ins Mittelalter zurück mit seinen fanatischen Sekten. Die haben den Autor interessiert und nicht die Loser aus der ehemaligen DDR, die in den frühen Neunzigern Ausländerheime in Deutschland angezündet haben.
Eindeutig zuzuordnen in dieser Gruppe ist nur der einzige wirkliche Neonazi – und ausgerechnet der wird zum Verräter. Das Interessante daran: Der Nazi ist nicht der Einzige, der Kontakt zur Polizei sucht. Ihr Anführer, „Der Geringste“, hat diesen Kontakt schon einige Zeit. Er logiert in der Gästewohnung eines pensionierten hohen Staatspolizisten, welcher „Helfer“– so heißt es im Text – im Apparat hat. Und dieser Hofrat weiß über die mörderischen Pläne der Verschwörer Bescheid. Und er weiß auch: „In der Polizei gärt es. Sie will nicht länger Laufbursche der Politiker sein. Sie fiebert einem Anlass entgegen, um wie ein erwachsener Mensch selbstständig handeln zu können. Tausende Polizisten warten auf den Befreiungsschlag. Wem er gelingt, dem gehört das Land.“
Die Täter sind am Ende selber tot. Das heißt: als gefährliche Mitwisser beseitigt. Was offenbleibt, ist die Frage: Waren sie nur Marionetten im skrupellosen Spiel eines raffinierten Komplotts von führenden Polizisten mit Verbündeten in der Politik, um das Land zu radikalisieren und in eine autoritäre Richtung zu zwingen? Ein erster Erfolg stellt sich auch sofort ein: Bei der nachfolgenden Wahl erringt die Nationale Partei die relative Mehrheit, die Sozialdemokratie fällt auf 25 Prozent zurück.
Der Autor lässt diese Frage einer Polizeiverschwörung offen, aber die Hinweise sind massiv. Und einen zweiten Verdacht legt er nahe: Hatte der Chef jenes kommerziellen Fernsehsenders, der erstmals den Opernball europaweit überträgt, eine Ahnung, was passieren würde? Es gibt da Verdachtsmomente – aber nicht mehr. Fest steht: Für diesen Sender wird die Übertragung des Opernballs der allergrößte Erfolg und die nachfolgende Dokumentation über die Katastrophe das allerbeste Geschäft. Daher auch hier: ein Verdacht und Indizien. Wie weit ist eine kommerzielle Medienanstalt für ihren Erfolg zu gehen bereit? „Opernball“ist ein radikales Buch, das – ausgehend von dem, was ist – skizziert, was sein könnte und was in Zukunft droht.
Und nun fragen wir: Hat Josef Haslinger recht behalten mit seiner Warnung? Seit seinem Roman sind mehr als 20 Jahre vergangen. Die nationale Rechte hat in der Zeit große Fortschritte gemacht. Sie braucht keinen solchen Gewaltakt, um an die Macht zu kommen. Und merkwürdige Querverbindungen und Informationsflüsse zwischen Polizei und Jörg Haider hat es ja auch gegeben. Die Justiz hat sich damit befasst, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Sollen wir uns wundern? Sicherlich nicht, wenn wir „Opernball“gelesen haben. Die Frage lautet: Wieso ist Österreich dort gelandet, wo wir heute stehen? Wie konnte das passieren? Haben wir nicht alles versucht, um gerade das zu verhindern? Und schienen wir dabei nicht eine Zeit lang erfolgreich zu sein?
Ich meine, der Roman „Opernball“, der Österreich in den frühen Neunzigerjahren schildert, liefert in seiner Überspitzung wichtige Hinweise. Vieles von dem, was der Autor vorausahnend beschreibt, ist heute Realität. Es gibt mehr Hass in unserer Gesellschaft, als wir uns damals vorstellen konnten. Natürlich war da Gewalt im Spiel, aber sie kam anders – nicht so abrupt wie im Roman. Der Hass ist jahrelang von einer Partei systematisch geschürt worden, und jetzt hat er sich in den Köpfen und Herzen vieler festgesetzt. Was Josef Haslinger befürchtet hat: eine Republik, die ganz anders ausschaut als davor, das kann eintreten – wenn auch auf anderem Wege als im Roman. Es lohnt sich, „Opernball“wieder zu lesen.
Die nationale Rechte hat in der Zeit große Fortschritte gemacht. Sie braucht keinen Gewaltakt, um an die Macht zu kommen. Es gibt mehr Hass in unserer Gesellschaft, als wir uns damals vorstellen konnten. Haben wir nicht alles versucht, um das zu verhindern?