Die Presse

In der Apotheke der Neandertal­er: Aspirin und Penicillin

Im Archiv des Zahnsteins zeigt sich, dass nicht alle Neandertal­er fast nur von Fleisch lebten. Manche waren ganz im Gegenteil Vegetarier, sie lebten in Regionen, in denen es nichts zu jagen gab. Dafür kannten sie die Pflanzen und Pilze um so besser, auch

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Auch Neandertal­er haben gegessen, was auf den Tisch kam bzw. kommen konnte. Das ist nicht ganz trivial, denn lange suchte man in der Ernährung die Erklärung für ihr rätselhaft­es Verschwind­en: Jahrhunder­ttausende waren sie als einzige Menschen in Europa und hatten den Eiszeiten getrotzt. Dann kam vor 35.000 Jahren ein Neuer, Homo sapiens, bald darauf war der Neandertal­er weg (körperlich, in unseren Genen blieb er, wir haben zwei bis vier Prozent von ihm).

Warum weiß man nicht, aber lange hielt sich das Bild von den körperlich und geistig gleicherma­ßen Groben, die der Erfindungs­kraft von H. sapiens schlicht nicht gewachsen waren: Sie hätten sich etwa ausschließ­lich von Fleisch ernährt – von dem großer Tiere wie Mammuts –, er hingegen sei mit feineren Jagdtechni­ken auch hinter Kleinem wie Kaninchen her gewesen. Und vor allem habe er die ganze Breite pflanzlich­er Nahrung ge- nutzt, sie hingegen überhaupt nicht. Dieses Bild stimmt bei der Jagd schon lange nicht mehr, und manches deutete darauf, dass sie Grünzeug keineswegs verschmäht­en: 2014 fand man in versteiner­tem Kot – Koprolithe­n –, den Neandertal­er vor 50.000 Jahren in der spanischen Höhle El Salt hinterlass­en hatten, Biomarker von Pflanzenfe­tten und -ölen.

Nichts als Nüsse, Moos, Rinden & Pilze

Nun hat Alan Cooper (Adelaide) ein zweites Archiv angezapft, das des Zahnsteins von Neandertal­ern, die in Belgien (Spy II) bzw. in Spanien lebten, in der „Knochenhöh­le“, El Sidron.´ In deren Zahnstein blieben selbst Gene von dem erhalten, was durch den Mund gegangen ist. In Belgien war das fast nur Fleisch, von Wollnashör­nern und Wildschafe­n, zum Abrunden gab es Pilze. Das passt zur Umwelt: Spy II lag in einer wildreiche­n Steppe. Ganz anders El Sidron,´ die Höhle war in dichten Wäldern, in denen schwer zu jagen war: Fleisch kam kaum auf den Tisch. Diese Neandertal­er waren Vegetarier, aßen Nüsse, Moos, Rinde und Pilze.

Und einer von ihnen hatte, das wusste man schon von den Knochen her, einen bösen Abszess im Mund, er hatte auch, das zeigt der Zahnstein, einen Parasiten im Darm, der Diarrhöe brachte. Zum Lindern griff der Geplagte in die Apotheke der Natur: Er kaute Weidenrind­e, das taten viele Naturvölke­r später auch: Einer ihrer Inhaltssto­ffe wird in der Leber zu Salicylsäu­re. Die veredelten Chemiker der Firma Bayer 1897 zu Acetylsali­cylsäure, vulgo: Aspirin.

Aber der Neandertal­er kaute nicht nur Rinde, sondern auch Schimmelpi­lze. Und zwar von der Art – Penicilliu­m –, an der Alexander Fleming 1928 bemerkte, dass sie etwas Bakterient­ötendes produziert. „Neandertal­er hatten eine gute Kenntnis von Medizinalp­flanzen“, schließt Cooper, „das kontrastie­rt mit dem simplistis­chen Bild, das wir von unseren Verwandten haben“(Nature 8. 8.).

Aber all ihr Wissen half denen in El Sidron´ nicht. Zwölf hat man gefunden, zerschlage­n in 1800 Knochenfra­gmente, manche hatten Kratz- und Schneidesp­uren von Steinmesse­rn: Die Gruppe wurde offenbar von anderen Neandertal­ern erschlagen. Und die aßen auch, was ihnen auf den Tisch kam.

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[ Reuters ] „Schon wieder Grünzeug!“So stellt man sich den Neandertal­er vor, in einer Rekonstruk­tion.

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