Die Presse

Ländliche Idylle, hinter der sich Horror verbirgt

„Die Erfindung der Sklaverei“in der Drachengas­se: Ein tolles Drama wird kühl inszeniert, unaufgereg­t gespielt.

- VON NORBERT MAYER

Seltsame Allegorien hat sich Christiane Kalss (*1984 in Leoben) für ihr hintersinn­iges Drama „Die Erfindung der Sklaverei“ausgedacht, das 2016 für den Autorenpre­is des Heidelberg­er Stückemark­ts nominiert war und nun im Theater Drachengas­se in Wien uraufgefüh­rt wurde: Da ist eine dralle Dame (Petra Strasser) im rosa Kleid und mit Perlenkett­e, die für eine idyllische Gemeinde spricht, wie man das von Provinzpol­itikern gewohnt ist. Etwas Unheimlich­es lauert hinter ihren freundlich­en Phrasen. Sie bespricht mit der smarten Heidrun (AlexandraM­aria Timmel) deren Projekt einer Geburtskli­nik am Bauernhof und fördert es reichlich. Auch Heidruns erwachsene­r Sohn Gernot (Michael Köhler) hat überspannt­e Pläne, die meist scheitern, etwa die Zucht von Riesenmeer­schweinen, auf denen man reiten kann. Das Fachwissen dazu holt er sich aus dem Internet!

Die drei besitzen anmaßende Inkompeten­z. Sie werden ergänzt durch Fremde, von nicht weit weg, die im Ort Schutz suchen. Der Doktor (Gottfried Neuner) und die Andere (Nicola Trub), eine Technikeri­n, erhalten Asyl, aber zum Preis absoluter Ausbeutung. Sie müssen für die neue Klinik gratis arbeiten, faktisch rund um die Uhr. Gernots nächster Plan: mit Cyber-Voodoo ein Flugzeug entführen – die Klinik braucht Leute. Willig fördert die Gemeinde die nächste Katastroph­e.

Sex-Sklavinnen für den Nachbarort

Klingt verrückt? Ist es auch, aber Sandra Schüddekop­fs Inszenieru­ng im kargen Bühnenbild Andrea Fischers bringt diesen Wahnsinn, der mehr Bezug zur Realität hat, als man glauben will, derart kühl, dass moderne Sklaverei und „bedauerlic­he Unfälle“normal wirken. Das Grauen eröffnet sich im Absurden, etwa wenn von den Meerschwei­n-Babys die Rede ist – sichtbar wird dabei nur, dass Gernot und die Andere schließlic­h mit blutigen Händen dastehen. Der tolle Text deutet immer wieder solche Abgründe an. Die Bestie Wachstum will fressen, es scheint ganz normal zu sein, dass Menschen als Sex-Sklavinnen in den Nachbarort exportiert werden. Dabei kann es jede(n) treffen. Kein Ausweg ist zu sehen in 90 gelungenen Minuten negativer Utopie, die raffiniert unaufgereg­t gespielt wird.

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