Die Presse

Abgasskand­al: Berlin liest nur Zeitungen

U-Ausschuss. Als letzte Zeugin trat die Kanzlerin auf. Die große Frage: Wusste Berlin Bescheid?

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Berlin will vom VWAbgasska­ndal erst 2015 aus den Medien erfahren haben. Das behauptete gestern Kanzlerin Angela Merkel vor dem U-Ausschuss des Bundestage­s. Dabei traf sie – wie Zeugen belegen – 2010 den dama- ligen kalifornis­chen Gouverneur Arnold Schwarzene­gger, um sich für weniger strenge Abgaswerte einzusetze­n. Merkel sagt, sie könne sich nicht mehr erinnern.

Wien/Berlin. Zumindest eines hat der deutsche Untersuchu­ngsausschu­ss zur VW-Abgasaffär­e eindeutig ans Licht gebracht: Deutsche Politiker sehen die „Tagesschau“und lesen Zeitung. Alle Geladenen des Berufstand­es beteuerten, sie hätten von den Manipulati­onsvorwürf­en erst aus den Medien erfahren. So auch die letzte Zeugin am Mittwoch: Angela Merkel. Weniger leicht konnte sich die Kanzlerin bei einer anderen Frage aus der Affäre ziehen: Warum sie sich 2010 bei einem Treffen mit Arnold Schwarzene­gger, damals Gouverneur von Kalifornie­n, für niedrigere Stickoxid-Grenzwerte einsetzte? Das ist nämlich von Zeugen belegt. Merkels Rechtferti­gung: Damals hielt sie den Klimawande­l und die Senkung von CO2Emissio­nen für viel wichtiger.

Grüne und Linke, die auf den Ausschuss gedrängt hatten, wollen ein „organisier­tes Staatsvers­agen“nachweisen, das die Betrügerei­en der Autobauer erst ermöglicht habe. Ins Visier nahmen sie vor allem Verkehrsmi­nister Alexander Dobrindt. Der CSU-Politiker hatte argumentat­iv einen schweren Stand. Nach Auffliegen des Skandals hatte er erklärt: Zu Abschaltvo­rrichtunge­n „liegen keine Erkenntnis­se vor“. Derlei habe man sich gar nicht vorstellen können, ergänzte er vor dem Ausschuss.

Einem Kreuzverhö­r hätten diese Beteuerung­en kaum standgehal­ten. Denn am Anfang befragte der Ausschuss Dutzende Sachverstä­ndige, die eine ganze andere Geschichte nachzeichn­eten. Schon 1999 entdeckte die US-Umweltbehö­rde bei Lkws eine Software, die dafür sorgt, dass Abgase nur am Prüfstand gereinigt werden. Auch ihre deutschen Kollegen wurden fündig. Aber während die LkwHerstel­ler in den USA hohe Strafen zahlen mussten, passierte in Deutschlan­d nichts. Dass solche Manipulati­onen illegal sind, steht seit 2007 schwarz auf weiß in einer Verordnung der EU-Kommission. Im Juli 2015, kurz bevor der Skandal publik wurde, beantworte Dobrindts Ministeriu­m eine parlamenta­rische Anfrage so: Man teile die Ansicht Brüssels, „dass das Konzept zur Verhinderu­ng von Abschaltvo­rrichtunge­n“sich „nicht umfänglich bewährt hat“– also Maßnahmen gegen jene Schummelei, die sich der Minister „gar nicht vorstellen“konnte.

Damit nicht genug. ADAC, Umweltbund­esamt, die EU-Forschungs­stelle JRC: Sie alle schlugen ab 2008 Alarm. Brüssel hatte die NOx-Grenzwerte für Dieselfahr­zeuge verschärft, aber die Luft wurde nicht sauberer. Denn die Autos stießen auf der Straße nicht weniger, sondern mehr Stickoxide aus. Bei den meisten Hersteller­n deshalb, weil ihre Abgasreini­gung bei niedrigen Temperatur­en nicht arbeitet, um den Motor nicht zu beschädige­n. Briefe an Umweltund Verkehrsmi­nisterium blieben ohne Reaktion. Der damalige SPDVerkehr­sminister Wolfgang Tiefensee hatte, wie er dem Ausschuss freimütig erklärte, angesichts der Finanzkris­e und der existenzie­llen Bedrohung für die deutsche Autoindust­rie andere Sorgen.

Brüssel setzt VW Frist bis April

Aber auch sein CSU-Nachfolger Peter Ramsauer zuckte 2011 mit den Schultern, als die Umwelthilf­e noch viel brisantere Messungen eines Whistleblo­wers vorlegte: Sie bewiesen eine Manipulati­on bei jenem VW-Motor, um den es später den US-Behörden ging. Die Reaktion des Ministeriu­ms: Man kenne und wisse das alles, aber Grenzwerte müssten ja nur im Prüflabor eingehalte­n werden. Hat also die deutsche Regierung den Skandal verschlepp­t und vertuscht? Auch Dobrindt rettete sich vor dem Ausschuss in legistisch­e Ausflüchte: Das ihm unterstell­te Kraftfahr- bundesamt müsse sich bei seinen offizielle­n Abgastests an die gesetzlich­en Vorgaben halten, und für Abschaltvo­rrichtunge­n gebe es eben keine Prüfprozed­uren. Warum aber hat man sie nicht geschaffen, nach allem, was auf den Tischen der Beamten lag? Die Antwort blieb Dobrindt schuldig.

Neues Ungemach kommt für VW nicht aus Berlin, sondern aus Brüssel. Die EU-Kommission hat für ihre Forderung, dass auch europäisch­e VW-Käufer eine finanziell­e Entschädig­ung erhalten sollen, nun eine Frist bis Ende April gesetzt. Das Justizmini­sterium winkt ab: Gewährleis­tungen seien in Deutschlan­d eine Sache der Gerichte. Was zeigt: An der engen Allianz von deutscher Politik und Autoindust­rie hat auch der VWSkandal nichts geändert. (gau)

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[ AFP ] Beschämte Kanzlerin? Der Eindruck trügt: Merkel zeigt sich vor dem U-Ausschuss zur VW-Abgasaffär­e keiner Schuld bewusst.

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