Polen gegen ihren Landsmann
Warschaus nationalpopulistische Regierung wirft dem Ratspräsidenten vor, das Prinzip der politischen Neutralität „brutal verletzt“zu haben.
Beim heute beginnenden EU-Gipfel soll Ratspräsident Donald Tusk für eine zweite Amtszweit wiedergewählt werden. Er dürfte eine klare Mehrheit erhalten. Die Zustimmung seiner Landsleute hat er nicht: Die nationalkonservative Regierung hat mit dem EU-Abgeordneten Jacek Saryusz-Wolski einen Alternativkandidaten vorgeschlagen.
Brüssel. Als Donald Tusk 2014 sein Amt als EU-Ratspräsident angetreten hatte, wollte er die zweitägigen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel straffer gestalten und idealerweise auf einen Tag kondensieren. Aus dieser guten Absicht wurde nichts: Erst kam Tusk in der ersten Jahreshälfte 2015 die Griechenlandkrise dazwischen, dann die Flüchtlingskrise, und schlussendlich das britische Votum für den EU-Austritt. Mittlerweile ist es Usus, dass am ersten Gipfeltag im Kreis der EU-28 über allgemeine Themen gesprochen wird, während am Tag darauf die EU-27 unter Ausschluss der britischen Regierungschefin Theresa May über die Zukunft der Union nach dem Brexit debattieren. Das Gipfeltreffen am Donnerstag und Freitag wird auch nach diesem Muster ablaufen.
Abseits der missglückten Straffung des Zeitmanagements kann sich die Bilanz des Ratspräsidenten allerdings durchaus sehen lassen – es ist ihm gelungen, das krisengeschüttelte europäische Schiff mehr oder weniger auf Kurs zu halten und eine Meuterei an Bord zu verhindern. Angesichts dieser durchaus respektablen Performance sollte die Bestätigung von Tusk für weitere zweieinhalb Jahre im Amt reine Formalität sein –, wäre da nicht die nationalpopulistische polnische Regierung, die mit aller Kraft versucht, ihren Landsmann zu demontieren.
Der Abwehrkampf gegen Tusk hat mehrere Gründe: Da wäre zum einen die persönliche Antipathie zwischen dem ehemaligen liberalen Premierminister und Jarosław Kaczyn´ski, dem Chef der Regierungspartei PiS. Der momentan mächtigste Mann der polnischen Innenpolitik macht Tusk für den Tod seines Zwillingsbruders Lech bei einem Flugzeugabsturz in Russland im Jahr 2010 verantwortlich. Gemäß PiS-Parteilinie wurde die Katastrophe nicht durch schlechtes Wetter und Pilotenfehler verursacht, wie alle seriösen Untersuchungen ergaben, sondern durch ein Komplott zwischen Tusk und dem russischen Staatschef Wladimir Putin. Die Nationalpopulisten würden Tusk am liebsten wegen Staatsverrats anklagen – was nicht möglich ist, solange er in Brüssel residiert. Der zweite, unausgesprochene Grund: Sollte Tusk verlängert werden, endet seine zweite Amtszeit 2019. Im selben Jahr wird in Polen das Parlament gewählt – und Tusk könnte als Staatsmann von Weltrang zurückkehren und gegen Kaczyn´ski in den Ring steigen.
Um dies zu verhindern, lancierte Warschau den Europaabgeordneten Jacek Saryusz-Wolski als Gegenkandidaten. Er hat den Nachteil, erstens kein ehemaliger Staatsoder Regierungschef zu sein (was informelle Voraussetzung für den Job des Ratspräsidenten ist) und zweitens null Rückhalt in den anderen Mitgliedstaaten zu genießen. Es interessiere ihn nicht, ob er auf die Unterstützung anderer EU-Mitglieder zählen könne, erklärte Außenminister Witold Waszczykowski trotzig vor wenigen Tagen, während Premierministerin Beata Szydło am gestrigen Mittwoch in einem an alle EU-Hauptstädte adressierten Brief Tusk vorwarf, das Prinzip der politischen Neutralität „brutal verletzt“zu haben. Mit Saryusz-Wolski als Ratspräsident würde die EU „unsere Vision einer Reform des europäischen Projekts“angehen können. Ob die restlichen EU-Mitglieder diese Vision teilen, darf bezweifelt werden. Nicht einmal die osteuropäischen Nachbarn Polens deklarierten ihre Unterstützung für den PiS-Kadidaten. Die Wiederwahl von Tusk dürfte also relativ problemlos über die Bühne gehen – wobei es das erste Mal ist, dass ein Kandidat gegen den Willen seiner Heimat zur Wahl steht.
Die restliche Gipfelagenda
Abseits der Personalie geht es am ersten Tag des EU-Gipfels unter anderem um die Sicherheitslage am Westbalkan, internationale Handelsbeziehungen (unter anderem steht das Handelsabkommen EU-Japan kurz vor Abschluss) und die Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft. Am Freitag werden die 27 Staats- und Regierungschefs über die Vorschläge von Kommissionspräsident JeanClaude Juncker zur Reform der EU sprechen.