Scharfe Zungen, alte Texte: Bibel ist lebensnah
Die Psalmen haben auch heute hohe Anziehungskraft.
Wie kann ein 2500 Jahre alter Text heute noch aktuell und ansprechend sein? „Psalmen treffen mitten ins Leben hinein. Sie sprechen zu einem“, sagt Sigrid Eder von der Katholischen Privat-Uni Linz. Die altorientalischen Gesänge und Gebete haben für die Bibelwissenschaftlerin weder an Relevanz noch an Faszination verloren. Obwohl sie nicht aus unserer Zeit, Sprache oder Kultur stammen. „Die Bibelwissenschaft hat für mich am meisten Sinn, wenn sie etwas mit dem heutigen Leben zu tun hat.“Eder wollte in ihrer Forschung wissen, warum die Psalmen bis heute eine hohe Anziehungskraft und Faszination ausüben.
„In den Psalmen gibt es Klage, Lob, Dank oder Bitten“, sagt sie. Dazu kommen noch Emotionen wie Angst, Wut oder Freude. Das alles kennt auch ein Mensch im 21. Jahrhundert, der sich dadurch mit dem biblischen Text identifizieren kann. Die Theologin analysierte in ihrer Habilitation, unterstützt vom Elise-Richter-Programm des Wissenschaftsfonds FWF, die poetischen Strategien der Psalmen.
Heute wäre es ein Shitstorm
Die Bibelwissenschaftlerin fand heraus, dass vor allem Inhalt, Emotionen sowie Perspektivenlenkung und Textdynamik Identifikationspotenziale für Lesende ermöglichen. Die interdisziplinäre Textanalyse baut auf der Annahme auf, dass Lesende die Perspektive der Psalmen übernehmen und sich mit den literarischen Themen identifizieren. Für diese erstmalig entwickelte Vorgangsweise erhielt Eder eine Anerkennungsurkunde der Dr.-Maria-Schaumayer-Stiftung.
Als Beispiel nennt Eder den Psalm 64: „Sie schärfen ihre Zunge wie ein Schwert, schießen giftige Worte wie Pfeile.“Der Psalm erzählt von Feinden, die einen Menschen mit Bosheit und geheimen Plänen bedrohen. „Heute würde man das Shitstorm oder Hate Speech nennen“, sagt sie. Je aktueller und interessanter eine Szene der Psalmen ist, desto eher können die Lesenden eine Verbindung zu gegenwärtigen Themen und Problemlagen herstellen.
Dabei ist noch eines wichtig: Für die Menschen des Alten Testaments war Gott ein fixer Gebets- und Gesprächspartner. „So richtig fromm muss man für die Psalmen heute aber nicht sein“, sagt Eder. Denn dem Gott Israels wird alles zugemutet, auch Klagen, Zorn oder Wutausbrüche. „Man darf alles sagen, solange man es Gott sagt.“Darum darf in den Psalmen auch geschimpft und geklagt werden.