Im Zeitalter der Fische
„. . . und glauben, es wäre die Liebe“: Die Jugend, die in Friedrich Torbergs Roman aus den 1930ern zu Wort kommt, verharrt in der inneren Emigration. Das bedeutet auch, dass der äußeren Wirklichkeit kein Widerstand entgegengesetzt wird. Über die Mutlosig
Die Lage ist aussichtslos, in jeder Hinsicht. Hilde ist verärgert über ihren Vater, weil er den Urlaub früher abbricht und sie so um die Vertiefung eines Flirts bringt. Es wird ihr den ganzen Roman hindurch nicht gelingen, jemanden an sich zu binden. Viktor Hellmer hadert mit seiner Geliebten, der launischen Tanja, und dieses Hadern wird ihn die nächsten Monate übellaunig machen. Manfred Ebinger findet all dies reichlich uninteressant und versucht, die allgemeine Aussichtslosigkeit als Phänomen zu fassen: Die Jugend sei zutiefst unfroh, schreibt er. „Sie vermag sich keinem Beginnen mit jenem guten Schwung, aus jenem inneren Antrieb hinzugeben, der zu allem Gedeihen erforderlich ist.“
Die Zeit, in der man lebt, ist prekär. Nicht die Verhältnisse sind es, denn die jungen Menschen, die hier über den Verlauf eines Frühlings und eines Sommers berichten, leiden keine materielle Not. Sie gehen ins Kaffeehaus oder ins Schwimmbad, sie fahren aufs Land. Über ihren Lebensunterhalt geben sie keine Rechenschaft ab, man dichtet, malt oder studiert, ohne Leidenschaft allerdings und ohne rechte Vorstellung davon, wie man sein restliches Leben zu gestalten beabsichtigt, denn: „Was wäre das für ein Leben, das unsere Eltern verstünden?“
Von diesen hat man sich ein wenig abgesetzt, aber doch nicht so weit, dass man sich Sorgen machen müsste um offene Rechnungen. Nein, die Verhältnisse sind erstaunlich solide, bedenkt man, dass der Roman 1932 erschien und damit in einer Zeit geschrieben wurde, in der wenige Existenzen auf sicherem Grund gebaut waren. Die Weltwirtschaftskrise höhlte die junge Erste Republik aus. Nebenan, in Deutschland, propagierten die Nazis ihre Idee von einer Volksgemeinschaft, von einem Volkskörper als Heilmittel gegen die Dekadenz der demokratischen Gleichmacherei, die am Ende bloß Kommunisten und Juden nach oben spüle. Diese Idee fand auch im verarmten Österreich Anhänger, sodass Engelbert Dollfuß, seit 1932 Bundeskanzler, im Jahr 1933 das Parlament ausschaltete und alle Parteien außer seiner christlichsozialen verbieten ließ. All dies – beziehungsweise die Vorgeschichte davon – wird in Friedrich Torbergs zweitem Roman nach dem „Schüler Gerber“, „. . . und glauben, es wäre die Liebe“, nicht zum Thema gemacht, und das wurde ihm von der Kritik vorgeworfen: Wie kann man ausgerechnet die Liebeswirren einer Handvoll junger Menschen, die sonst scheinbar keine Sorgen haben, vor solch einem historischen Hintergrund zum Thema eines Romans machen?
Diese Einwände gegen Torbergs Roman sind auf den ersten Blick nachvollziehbar, doch wenn man ihn ideologisch unbefangen liest, wird man bemerken, dass der Autor das Drama der Zeit, in der die Geschichte spielt, ins Drama der Unaussprechlichkeit einschließt. Das Nicht-aussprechen-Können ist das zentrale Thema. Der ganze Roman ist durchzogen von Begriffen wie Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, von hohen moralischen Ansprüchen an sich selbst und an die anderen.
Der Versuch, wahrhaftig zu sprechen
Doch der Versuch, wahrhaftig zu sprechen, wird bereits durch den Sprechakt konterkariert, da Sprechen und Verstehen nie eindeutige Akte sind. Weil Sprache als vermitteltes Denken an sich fehlerhaft ist. Manfred Ebinger, der sinistre Denker und der Praxis der Liebe am wenigsten zugetane Protagonist des Mokkakränzchens, nimmt in seinen Ausführungen die Philosophie des Sprachskeptikers Fritz Mauthner auf. Dieser war eine prägende Figur der Wiener Moderne um die Jahrhundertwende. Torberg kannte sich damit aus, als junger Mann lernte er noch Karl Kraus und Alfred Polgar kennen, zwei Sprachskeptiker, die wie Mauthner der Überzeugung waren, dass Sprache nicht Wirklichkeit abbilde, sondern sie erst erzeuge.
Die Sprache ist ein ideologisches Gefängnis und kein analytisches Instrument, das weiß auch Manfred Ebinger, und er bringt die „Ehrlichkeit gegen sich selbst“ins Spiel – einen Begriff, den Mauthner in seiner Kritik an Nietzsche verwendet, dem er unterstellt, nicht auf Erkenntnis aus zu sein, sondern auf schlichtes Moralisieren. Nietzsche gehe sich selbst in die Falle, so Mauthner, weil er sich an seinen eigenen Worten berausche. Mit seiner Sprachkritik wolle er nur die Virtuosität seiner Kritikfähigkeit unter Beweis stellen – ein Manko, das nicht zuletzt auf Manfred Ebinger zutrifft.
Die Ehrlichkeit gegen sich selbst soll nichts mit Moral zu schaffen haben, schreibt Ebinger, sie soll ohne Zweck sein, ohne je- doch das Individuum zugrunde zu richten. Er macht in uneingestandener Selbstlosigkeit seinem besten Freund, dem Nachwuchsschriftsteller und kunstreligiösen Anwandlungen a` la Stefan George zugetanen Walter Grohmann, deutlich, dass man, um etwas wirklich Gutes zustande zu bringen, zwar weiter gehen muss, als man es sich zutraut – jedoch nicht so weit, dass man sich jenseits der eigenen Grenzen abhandenkommt.
Er stellt das Tagebuchprojekt, das Grohmann initiiert hat, um daraus einen Roman zu machen, grundlegend in Frage. Das ist ein poetologisch bemerkenswerter Ansatz, denn das Paar Ebinger/Grohmann ist die dialektische Figur, anhand derer Friedrich Torberg den Wahrheitsdiskurs durchspielt. Denn das ist das eigentliche Thema dieses Romans: Was ist wahr? Was ist wahrhaftig? Kann man mittels Sprache der Wahrheit auf die Spur kommen, oder soll man letztlich schweigen, wie Fritz Mauthner meint, um wirklich ehrlich gegen sich selbst zu sein?
Wie in seinen späteren Romanen verhandelt Torberg auch hier mittels zweier sich nahestehender Personen das Für und Wider der Problematik, die er literarisch zu bewältigen versucht. Er geht aber noch weiter: Diesen Roman schreibend, diskutiert er die Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit, ihn auch tatsächlich fertigzustellen. So geht es in „. . . und glauben, es wäre die Liebe“nicht zuletzt um das Schreiben, um das Ringen des Autors mit seinen Ansprüchen an das Wort. Doch immer wieder zerfällt es im Moment des Aussprechens beziehungsweise Niederschreibens.
Das ist nicht Grohmanns einziges Problem. In den Gesprächen mit Manfred Ebinger wird klar: Seine Idee, alle Beteiligten des Mokkakränzchens über drei Monate hindurch Tagebuch führen zu lassen, um damit die besagte Ehrlichkeit gegen sich selbst zuzulassen, die in der täglichen Begegnung nicht möglich ist, geht nicht auf. Grohmann schwebt so etwas wie ein Feldforschungsprojekt vor: Eine Handvoll junger Menschen, die einander regelmäßig treffen, führen Buch über ihre wahren Empfindungen. Und zwar so, als blieben die Texte unter Verschluss und wären nichts anderes als Rechenschaftsberichte vor dem eigenen Gewissen. Grohmann möchte diese Texte später als Material für einen Roman über die Liebe verwenden. Nicht für einen Liebesroman wohlgemerkt, das verbietet schon sein Anspruch an die Literatur, sondern einen über die Liebe – über einen Zustand also, den man erfühlen, erleiden, erdulden kann, für den es aber keine adäquate Sprache gibt. Und genau da steht er vor dem Abgrund, den er am Ende auch nicht mit künstlerischen Mitteln zu überbrücken vermag: Er sagt Liebe und meint die Wahrheit, doch das eine ist so formlos wie das andere, er kommt beidem nicht auf die Spur.
Die Lage ist aussichtslos, in jeder Hinsicht. Walter Grohmann fühlt sich zu Tanja hingezogen, und sie macht ihm durchaus Hoffnungen, auch wenn sie nicht davon ablassen kann, sich in ein Geheimnis zu hüllen, welches die endgültige Hingabe verunmöglicht. Er will mit ihr schlafen, doch der Wunsch bleibt in seiner Fantasie eingeschlossen. Aus dem Wollen wird kein Tun, sobald die Rede auf Gefühle kommt, verbauen Missverständnisse den Weg zum Glück.
Die Fragmentierung hat in der Moderne und mehr noch in der Nachmoderne eine Zuspitzung erfahren. Innerhalb der engen Grenzen seiner Existenz erfährt sich das Ich als flexible Größe. Es sind äußere Verhältnisse, die dies einfordern, ständige berufliche Neuorientierung, das Gebot der Mobilität, die kurze Halbwertszeit sozialer Kontakte, eine Flut von Informationen, die sich in den unterschiedlichsten Schichten des Bewusstseins ablagern und dort zu gären beginnen. Es gibt wenig Platz für Entgrenzungen, doch die Liebe ist so eine Überschreitung. Negative Gefühle wie Hass, Neid oder Abneigung sind zumeist Folgen von Beeinflussung, doch die Liebe lässt sich nicht in jemanden hineinmanipulieren. Sie ist in ihrem Ursprung etwas Überraschendes, Unbeschreibliches und Besitzergreifendes. In der Liebe, und vielleicht nur in ihr, vermag sich das Individuum als Einheit zu fühlen. Man liebt nicht ein bisschen, man liebt ganz. Liebende sind bei sich und für die Gesellschaft verloren.
Liebesdiskurs und Verzicht
Der Liebesdiskurs mündet selten in eine Glückserfahrung, sondern in der Regel ins Katastrophische, Tragische, Lächerliche. Abzuwenden ist das nur durch den Verzicht. Über diese Einsicht kann sich auch Walter Grohmann nicht hinwegsetzen. Die Liebe in ihrer banalen, aber immerhin lebbaren Form als Spiel der Annäherung mit dem Preis der Vereinigung interessiert ihn nicht. Er will die Unbedingtheit des Liebenden erfahren. Ausgerechnet mit Tanja will er diese Erfahrung machen, die lebhaft und verschlossen zugleich ist, eine Geheimniskrämerin, die sich überhaupt nicht als Isolde neben diesem Tristan versteht, sondern eher als emanzipierte Bovary. Mehr als beredte Sprachlosigkeit bringt Grohmann allerdings nicht zustande.
Alles zerfällt, Tanja sucht das Weite, es gibt zwei Selbstmordversuche, Grohmann und Ebinger brauchen Abstand voneinander, der Freundeskreis löst sich auf, zumindest vorübergehend, und der Roman wird von Grohmann nie geschrieben werden. Alles Gesagte ist aus zweiter Hand, und sämtliche Erfahrungen sind austauschbar. Die Flirts, die Eifersüchteleien, das Abhängen im Kaffeehaus, die Copy-Paste-Weltbilder: Nichts davon wohnt eine Dringlichkeit inne. Die Jugend, die in diesem Roman zu Wort kommt, verharrt in der inneren Emigration. Das bedeutet auch, dass die Dinge ihren Lauf nehmen, dass der äußeren Wirklichkeit kein Widerstand entgegengesetzt wird.
Ödön von Horvath´ hat in seinem 1937 erschienenen Roman „Jugend ohne Gott“vom „Zeitalter der Fische“gesprochen: „Vorsichtig stehe ich auf und trete ans Fenster. Es ist noch Nacht. Ich sehe nichts. Alles nur Nebel. Und der Schein einer fernen Laterne fällt auf den Nebel, und der Nebel sieht aus wie Wasser. Als wäre mein Fenster unter dem Meer. Ich schau nicht mehr hinaus. Sonst schwimmen die Fische ans Fenster und schauen herein.“Bei Horvath´ gibt es keinen Ausweg mehr, die Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten. Doch das Zeitalter der Fische beginnt schon früher, mit der Mutlosigkeit einer Generation, die stumm die Mäuler aufklappt und den Blick nach innen wendet, während auf der anderen Seite des Fensters sich die Haie vermehren.