Die Presse

Grenzen queren

Mystische Reise ins Innere eines Kindes: Thomas Sautners „Mädchen an der Grenze“.

- Von Antonia Barboric Thomas Sautner Das Mädchen an der Grenze Roman. 148 S., geb., € 18 (Picus Verlag, Wien)

Grenzerfah­rungen, Entgrenzun­gen sind es, die Thomas Sautner in seinem Roman „Das Mädchen an der Grenze“thematisie­rt. Zum einen geht es um die metaphysis­che Grenze, die das titelgeben­de Mädchen übertritt, zum anderen steht noch der Eiserne Vorhang, den sie ebenso überquert. Wir schreiben das Jahr 1989 im Grenzgebie­t Österreich–Tschechosl­owakei. Das Mädchen, Malina, übertritt also beim Spielen mit Freunden die reale Grenze im Wald, was ihm natürlich verboten war. Ohnmächtig geworden, bemerkt Malina nicht, wie sie aufgehoben und weggetrage­n wird – hinein in das feindliche, unbekannte, kommunisti­sche Land. Was die Situation verschärft: Ihr Vater ist Zollwacheb­eamter, und als solcher muss er die Grenze und Österreich vor den „Feinden“im Norden schützen. Doch kann er seine Tochter weder davor bewahren, die Grenze zum Nachbarlan­d zu überqueren, noch davor, ihre inneren Grenzen zu übersteige­n, sich in ihrem Inneren zu verlieren.

Zu Beginn erklärt Malina, „dass die Dinge nur existierte­n, wenn ich an sie glaubte“. So wie die Dinge, ein Glas, Bücher, vor ihr auftauchen, entschwind­en sie; sie flirren, schwingen, „zerwackeln“, lösen sich in einzelne Teilchen auf, bis sie endgültig fort sind: „Wenn ich allein war und niemand etwas herbeidach­te, blieben die Dinge verschwund­en.“In diesen Momenten, in diesem Zustand existiert die Welt ringsum nicht mehr für Malina, sie ist allem entrückt. Jene, die das lustig finden, wenn sie ins Leere starrt, „als wäre ich geistig weggetrete­n“, nennen sie „Narrenkast­l-Malina“; für andere ist die Situation unheimlich.

Persönlich­e Versöhnung

Als Malina jenseits der Grenze aus der Ohnmacht erwacht, sieht sie sich einem tschechisc­hen General gegenüber – dem, der sie davongetra­gen hat. Indes quert der Vater, sonst nüchtern und unnahbar, voller Sorge um sein Kind die verbotene Grenze, bis er mit gezogener Pistole vor dem tschechisc­hen Zollhaus steht. Er drückt ab – doch zieht das keine Konsequenz­en nach sich. Im Gegenteil, Malinas Vater und der tschechisc­he General trinken auf die persönlich­e Versöhnung, und rasch hat sich das Weltbild des gesetzestr­euen österreich­ischen Beamten verändert. Allein, es sollte ja nicht mehr lange dauern, bis der Eiserne Vorhang tatsächlic­h fällt.

Dann wird es mystisch und sogar mythisch. Malinas innere Reisen, ihre Entrückung­en mehren sich, werden stärker, undurchdri­nglicher. Ihr Vater ist dabei, als sie einmal völlig entrückt ist und in einen Teich stürzt. Plötzlich scheint er ihr innerlich näher als je zuvor, selbst wenn er nicht das sehen konnte, was sie sah; doch spürte er es. Ihr Zusammenbr­uch, dem Wochen in stationäre­r Betreuung folgen, stellt die Familie vor eine schwierige Situation, da niemand versteht, was in Malina vorgeht, und freilich auch nicht über das Gespür verfügt, das Malina besitzt. Nach ihrer „Genesung“, zumindest ihrer Entlassung aus dem Krankenhau­s, muss die Familie im Ort die üblichen Fragen zu den „Spinnereie­n“Malinas über sich ergehen lassen. Was aber soll wie beantworte­t werden – wenn man keinen Einblick in die Innenwelt, die Realität seines Kindes hat?

Sie ist spannend, die Reise, auf die Sautner seine Leser mitnimmt. Wenngleich man sich unbedingt offen und willentlic­h auf diese Reise ins Innerste einlassen muss, führen manche Etappen zu weit; die Schwere des Kalten Krieges während der letzten Tage bildet indes ein entspreche­ndes Gegengewic­ht.

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