Grenzen queren
Mystische Reise ins Innere eines Kindes: Thomas Sautners „Mädchen an der Grenze“.
Grenzerfahrungen, Entgrenzungen sind es, die Thomas Sautner in seinem Roman „Das Mädchen an der Grenze“thematisiert. Zum einen geht es um die metaphysische Grenze, die das titelgebende Mädchen übertritt, zum anderen steht noch der Eiserne Vorhang, den sie ebenso überquert. Wir schreiben das Jahr 1989 im Grenzgebiet Österreich–Tschechoslowakei. Das Mädchen, Malina, übertritt also beim Spielen mit Freunden die reale Grenze im Wald, was ihm natürlich verboten war. Ohnmächtig geworden, bemerkt Malina nicht, wie sie aufgehoben und weggetragen wird – hinein in das feindliche, unbekannte, kommunistische Land. Was die Situation verschärft: Ihr Vater ist Zollwachebeamter, und als solcher muss er die Grenze und Österreich vor den „Feinden“im Norden schützen. Doch kann er seine Tochter weder davor bewahren, die Grenze zum Nachbarland zu überqueren, noch davor, ihre inneren Grenzen zu übersteigen, sich in ihrem Inneren zu verlieren.
Zu Beginn erklärt Malina, „dass die Dinge nur existierten, wenn ich an sie glaubte“. So wie die Dinge, ein Glas, Bücher, vor ihr auftauchen, entschwinden sie; sie flirren, schwingen, „zerwackeln“, lösen sich in einzelne Teilchen auf, bis sie endgültig fort sind: „Wenn ich allein war und niemand etwas herbeidachte, blieben die Dinge verschwunden.“In diesen Momenten, in diesem Zustand existiert die Welt ringsum nicht mehr für Malina, sie ist allem entrückt. Jene, die das lustig finden, wenn sie ins Leere starrt, „als wäre ich geistig weggetreten“, nennen sie „Narrenkastl-Malina“; für andere ist die Situation unheimlich.
Persönliche Versöhnung
Als Malina jenseits der Grenze aus der Ohnmacht erwacht, sieht sie sich einem tschechischen General gegenüber – dem, der sie davongetragen hat. Indes quert der Vater, sonst nüchtern und unnahbar, voller Sorge um sein Kind die verbotene Grenze, bis er mit gezogener Pistole vor dem tschechischen Zollhaus steht. Er drückt ab – doch zieht das keine Konsequenzen nach sich. Im Gegenteil, Malinas Vater und der tschechische General trinken auf die persönliche Versöhnung, und rasch hat sich das Weltbild des gesetzestreuen österreichischen Beamten verändert. Allein, es sollte ja nicht mehr lange dauern, bis der Eiserne Vorhang tatsächlich fällt.
Dann wird es mystisch und sogar mythisch. Malinas innere Reisen, ihre Entrückungen mehren sich, werden stärker, undurchdringlicher. Ihr Vater ist dabei, als sie einmal völlig entrückt ist und in einen Teich stürzt. Plötzlich scheint er ihr innerlich näher als je zuvor, selbst wenn er nicht das sehen konnte, was sie sah; doch spürte er es. Ihr Zusammenbruch, dem Wochen in stationärer Betreuung folgen, stellt die Familie vor eine schwierige Situation, da niemand versteht, was in Malina vorgeht, und freilich auch nicht über das Gespür verfügt, das Malina besitzt. Nach ihrer „Genesung“, zumindest ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, muss die Familie im Ort die üblichen Fragen zu den „Spinnereien“Malinas über sich ergehen lassen. Was aber soll wie beantwortet werden – wenn man keinen Einblick in die Innenwelt, die Realität seines Kindes hat?
Sie ist spannend, die Reise, auf die Sautner seine Leser mitnimmt. Wenngleich man sich unbedingt offen und willentlich auf diese Reise ins Innerste einlassen muss, führen manche Etappen zu weit; die Schwere des Kalten Krieges während der letzten Tage bildet indes ein entsprechendes Gegengewicht.