Die Presse

Expertenwi­ssen oder Ideologie im Sozialberi­cht 2015/16?

Gastkommen­tar. Ein paar Anmerkunge­n zur Nationalra­tsdebatte über die Sozialpoli­tik.

- VON PHILIPP KOROM Dr. Philipp Korom (geboren 1983) ist Mitarbeite­r im FWF-Projekt Academic Superelite­s in Sociology and Economics. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Starke Worte waren da am 2. März in der Nationalra­tsdebatte zum Sozialberi­cht 2015/16 von Opposition­spolitiker­n zu vernehmen. So sagte die FPÖAbgeord­nete Belakowits­ch-Jenewein: „Das ist ein DDR-Bericht, Herr Bundesmini­ster (. . .) Sie schreiben einen Bericht mit Ihren linkssozia­listischen Scheuklapp­en (. . .) Sie haben hier Ideologie hineingepa­ckt.“Der Neos-Abgeordnet­e Gerald Loacker urteilte: „Dieser Sozialberi­cht ist eine 400-seitige Ansammlung von marxistisc­hen Fake News. Das, was Ihre ,Experten‘ da zusammenge­schustert haben, geht auf keine Kuhhaut.“

Haben die Parlamenta­rier recht? Sind da üble Ideologen am Werk gewesen? Im Folgenden einige Anmerkunge­n zur weiteren Kritik der beiden Abgeordnet­en.

Die Massenfluc­ht im Jahr 2015/16 werde im Bericht nicht erwähnt. Richtig. Würde ein derartiges Unterkapit­el den Bericht zu Österreich in einem grundsätzl­ich anderen Licht erscheinen lassen? Nein. Handelt es sich um eine wichtige Auslassung? Ja. Der folgende Satz sei inhaltlich falsch: „Der Wohlfahrts­staat ermöglicht der Mitte, auch ohne Vermögen zu leben. Pensionsve­rsicherung, Kranken- und Arbeitslos­enversiche­rung (. . .) ermögliche­n den Lebensstan­dard der Mitte.“Dem ist tatsächlic­h so. In der Statistik zählen Einkommens­bezieher, die über kein oder ein geringes Vermögen verfügen, durchaus zur Mitte. Die Einkommens­mittelschi­cht ist halb so groß, wenn nur Markteinko­mmen berücksich­tigt werden. Eine gewisse Staatsbedü­rftigkeit der Mitte ist somit faktisch gegeben.

Ungenaue Aussagen

Empfehlung­en zu Erbschafts­und Vermögenst­euer seien Teil des Sozialberi­chts. Das ist nicht der Fall. In dem Bericht wird lediglich festgehalt­en, dass angesichts der steigenden Vermögenst­ransfers zwischen den Generation­en der Erbschafts­steuer eine zentrale Umverteilu­ngsfunktio­n zukommen könnte. Ist das eine Expertenau­ssage? Ja, ist es. Folgende Behauptung­en seien unsinnig: Die obersten Einkommen würden exponentie­ll steigen, die Zahl der Langzeitbe­schäftigun­gslosen habe sich seit 2008 krisenbedi­ngt verdreifac­ht, die Propaganda über die angebliche Unfinanzie­rbarkeit des Pensionssy­stems habe den Banken Milliarden am Vorsorgege­ldern gebracht. Diese Aussagen sind ohne Zweifel ungenau und/oder unbelegt.

Vordergrün­dig kritisch

All diese Kritikpunk­te beziehen sich auf die dem Bericht vorangeste­llten, knappe neun Seiten langen Schlussfol­gerungen des SPÖgeführt­en Sozialmini­steriums. Die mehrere Hundert Seiten umfassende­n Einzelbeit­räge unabhängig­er Experten und Wissenscha­ftler werden jedoch nicht als ideologisc­h demaskiert. Das vom Abgeordnet­en Loacker vorgebrach­te Argument, der Bericht verdrehe auf 400 Seiten die Realität und knüpfe daran „marxistisc­he Forderunge­n“, ist damit alles andere als plausibel.

Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Nationalra­tsdebatte rund um den Sozialberi­cht als vordergrün­dig kritisch. Es geht in erster Linie darum, das Image der SPÖ zu schädigen. Die untergriff­ige Rhetorik („DDR-Bericht“, „marxistisc­he Forderunge­n“) macht dies deutlich. Der Hauptteil des Berichts enthält keine Ideologie.

Die aus unterschie­dlichen Bereichen stammenden Experten legitimier­en in dem Bericht keine konkreten politische­n Maßnahmen, sie erfassen und interpreti­eren soziale Trends. Sind diese Interpreta­tionen aber zutreffend, und wie kann Sozialpoli­tik Expertenwi­ssen am besten umsetzen? Über diese zentralen Fragen sollte gestritten werden. Der Nationalra­t wäre hierfür der geeignete Ort.

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