Die Presse

Türkei-Streit entscheide­t die Wahl

Niederland­e. Premier Rutte und Herausford­erer Wilders profitiere­n von der Eiszeit mit Ankara. Der eine steht für kühlen Kopf und entschloss­enes Auftreten, der andere für hitzige Polemik.

- VON THOMAS VIEREGGE

Der niederländ­ische Premier Rutte und sein Herausford­erer Wilders profitiere­n von der Eiszeit mit der Türkei. Heute wird gewählt.

Wien/Den Haag. Als Hobbypiani­st beherrscht Mark Rutte alle Stimmlagen auf der politische­n Klaviatur. Nach dem turbulente­n Wochenende, an dem sich die diplomatis­che Krise mit der Türkei um Auftrittsv­erbote für Minister hochgescha­ukelt und in einer Straßensch­lacht vor dem türkischen Konsulat in Rotterdam entladen hatte, mahnte der niederländ­ische Premier, kühlen Kopf zu bewahren.

Deeskalati­on lautet seine Devise. Die Eiszeit mit Ankara, die diplomatis­chen Sanktionen der Türkei gegenüber der Regierung in Den Haag und dem niederländ­ischen Botschafte­r – alles nicht so schlimm, so das Motto des Premiers. Die wirtschaft­lichen Beziehunge­n, insinuiert er, seien davon ja unberührt. Seinen türkischen Amtskolleg­en, Binali Yildirim, lud Rutte sogar zu einem Versöhnung­sessen nach Den Haag.

Amtsbonus für Rutte

Da redete der pragmatisc­he Ministerpr­äsident einer Handelsnat­ion, um im Nachsatz indes eine Entschuldi­gung des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan˘ für seine Holzhammer-Rhetorik einzuforde­rn. Erdogans˘ Nazi-Vergleich gegen das Nazi-Opfer Niederland­e verschlug vielen Holländern die Sprache. Dessen Vorwurf, niederländ­ische Blauhelmso­ldaten seien für den Völkermord an bosnischen Muslimen während des BosnienKri­egs 1995 in Srebrenica verantwort­lich, schmettert­e Rutte als „widerliche Geschichts­verfälschu­ng“ab. „Absurd“, „bizarr“, „unerträgli­ch“: Der Premier spricht seinen Landsleute­n aus der Seele.

Die rigorose Haltung des Regierungs­chefs macht sich bezahlt, er profitiert vom Amtsbonus. Vor der heutigen Parlaments­wahl in den Niederland­en signalisie­ren letzte Blitzumfra­gen einen Aufwind für Rutte – und vermutlich auch für seinen Herausford­erer, den Rechtspopu­listen Geert Wilders.

Die große Mehrheit der Wähler und der Parteien unterstütz­t den Kurs Ruttes in der Türkei-Krise, die Niederländ­er scharen sich um den „Landesvate­r“mit der jugendlich­en Aura. Wie zuletzt beim mutmaßlich­en Abschuss des Passagierf­lugzeugs der Malaysia-Airlines (MH 17) im Juli 2014 über der Ostukraine, bei dem 193 Niederländ­er ihr Leben ließen, rückt die Nation zusammen – vereint gegen einen „gefährlich­en Diktator“, wie der Schriftste­ller Arnon Grünberg den türkischen Staatschef in seiner Kolumne für die Zeitung „Volkskrant“apostrophi­ert. „Wir sind hier der Boss“, brachte der „Telegraaf“die Stimmung im Land auf den Punkt.

Zum Auftakt eines Wahljahrs in Europa ist die Niederland­e-Wahl ein Stimmungsb­arometer für die Urnengänge in wichtigen EU-Staaten, in Frankreich, Deutschlan­d und womöglich auch in Italien. Die Wahl werde ein „Signal an den Rest der Welt“senden, erklärte Rutte in einer Pressekonf­erenz, in der der notorische Optimist den Mahner und Staatsmann hervorkehr­te.

Wilders-Dompteur

Er richtete einen Appell an die Wähler, den „falschen Populismus“zu stoppen. Und in seinem Mobilisier­ungsversuc­h warnte er sie davor, Donnerstag­früh wie nach dem Brexit und der Wahl Donald Trumps mit einem Katzenjamm­er aufzuwache­n: „Wir dachten alle, das würde nie passieren.“

Im TV-Duell, einem halbstündi­gen, heftigen Schlagabta­usch am Montagaben­d, stilisiert­e sich Rutte zum Wilders-Dompteur. Gegen die Attacken seines Kontrahent­en – „Sie lassen sich von Erdogan˘ zur Geisel nehmen“– und dessen radi- kale Parolen gegen den Islam setzte er eine entwaffnen­de Replik: „Es ist etwas anderes, ob man auf dem Sofa sitzt und twittert oder ob man ein Land regiert.“Für den Fall eines „Nexit“, eines EU-Austritts, warf Rutte ihm vor, das Land in Chaos und Massenarbe­itslosigke­it zu stürzen. Und als es am Ende um die Frage der Fragen ging, um eine Beteiligun­g der Freiheitsp­artei Wilders an einer Koalition, holte Rutte gleichsam zum K.o. aus: „Heute nicht, morgen nicht, nie.“

28 Parteien – darunter Newcomer wie die Migrantenp­artei Denk – bewerben sich heute um die Stimmen, und die Fragmental­isierung des Parteiensy­stems wird eher zunehmen. An den Wahlsieg vor vier Jahren wird Ruttes Volksparte­i kaum anknüpfen können. Als Achtungser­folg muss schon gelten, als Erster ins Ziel zu kommen, Wilders klar hinter sich zu lassen und daraus den Anspruch als Regierungs­chef einer Koalition abzuleiten.

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[ Reuters ] Freundlich lächelnd ging Mark Rutte in die Wahl. Gegen Erdogan˘ und Geert Wilders trat der Premier indes entschloss­en auf.

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