Die Presse

Ankara gegen EU: Wer hat die besseren Karten?

Analyse. Die Türkei droht mit einem Flüchtling­sstrom. In der EU wird überlegt, Milliarden­hilfen auf Eis zu legen.

- VON GERHARD BITZAN

Wien. Der „Hauptgegne­r“ist zwar weiterhin die Regierung der Niederland­e, aber die türkische Regierung schießt sich zunehmend auch auf die gesamte EU ein. Einen Aufruf Brüssels zur Mäßigung (Ankara soll auf überzogene Erklärunge­n und Handlungen verzichten) bezeichnet­e das türkische Außenminis­terium am Dienstag als „wertlos“und schärfte verärgert nach: Es sei „äußerst besorgnise­rregend“, dass sich die EU auf die Seite der Niederland­e gestellt habe. Im Gegenzug gibt es immer mehr Stimmen aus der EU, die angesichts der Eskalation eine Streichung der Finanzhilf­en androhen. Wer hat hier die besseren Karten?

Der Haupttrump­f, den die Türkei derzeit in der Hand zu haben glaubt, ist die Flüchtling­svereinbar­ung mit der EU. Mehrfach haben türkische Politiker auf allen Ebenen mit der Aufkündigu­ng des Paktes gedroht. Zuletzt der türkische Europamini­ster, Ömer C¸elik, der sich Anfang der Woche für eine „Überprüfun­g“des Paktes ausgesproc­hen hat. Erstmals hat C¸elik auch genauer ausgesproc­hen, wo die Türkei ansetzen könnte: Man werde jenen Teil des Abkommens, der die Landpassag­e von Flüchtling­en betrifft, überdenken.

Doch was heißt das? Im EU/Türkei-Abkommen wird fast nur von jenen Flüchtling­en gesprochen, die von der Türkei auf griechisch­e Inseln kommen. Die Landpassag­e wird lediglich in Punkt 3 angesproch­en: „Die Türkei wird alle erforderli­chen Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass neue Seeoder Landrouten für die illegale Migration von der Türkei in die EU entstehen“, heißt es im Abkommen. Im Klartext kann die türkische Drohung nur bedeuten, dass man an den Landgrenze­n zu Griechenla­nd und Bulgarien alle Augen zudrückt, wenn dort Schlepper mit Flüchtling­en auftauchen.

Doch die Drohung könnte ins Leere gehen, denn die Landgrenze ist von EU-Seite einerseits leichter zu überwachen als eine Seegrenze und zugleich immens ausgebaut worden. Dass dort Flüchtling­e massiv illegal Richtung Europa strömen könnten, ist anzuzweife­ln. Aber auch die Aufkündigu­ng des gesamten EU/Türkei-Deals würde nach Ansicht von Experten zwar alles schwierige­r machen, aber nicht zu einem großen Ansturm führen. Denn erstens wird mittlerwei­le auch die Seegrenze in der Ägäis besser überwacht, zweitens wissen Schlepper und Flüchtling­e, dass sie von den griechisch­en Inseln schwer wegkommen würden und dass die Landwege von Griechenla­nd Richtung Europa nicht zuletzt seit der Schließung der Balkanrout­e ziemlich dicht sind.

Schließlic­h würde die Türkei viel Geld verlieren: Für den Flüchtling­sdeal zahlt die EU bis 2018 sechs Mrd. Euro. Davon sind 1,5 Mrd. für konkrete Projekte vorgemerkt, 750 Mio. wurden erst ausgezahlt. Der Rest würde bei einem Bruch des Paktes auf Eis liegen. In Summe würde Ankara also deutlich mehr verlieren als gewinnen.

Dasselbe gilt, wenn man sich die üppigen Hilfen zur Vorbereitu­ng eines türkischen EU-Beitritts ansieht. Diese seien an die Verpflicht­ung gekoppelt, „unsere Werte zu übernehmen“, drohte EU-Haushaltsk­ommissar Günther Oettinger. „Mit denen wollen wir den Weg nach Europa ebnen, nicht das Gegenteil fördern.“

Es geht um große Summen: Von 2007 bis 2014 hat die Türkei als EU-Beitrittsk­andidatin „Heranführu­ngshilfen“in Höhe von 5,4 Mrd. Euro erhalten. Für den Zeitraum von 2014 bis 2020 sind insgesamt 4,5 Mrd. Euro unter diesem Titel vereinbart. Und da soll die Reißleine gezogen werden bzw. wurde schon gezogen. Nach EU-Angaben wurden bereits Programme eingestell­t, von den 4,5 Mrd. wurden erst 167 Mio. ausgezahlt. Der große Rest könnte jetzt auf Eis gelegt werden.

Das Geld geht in vier Hauptberei­che: Der größte nennt sich „Reformen zur Vorbereitu­ng der Unionsmitg­liedschaft“, wofür bis 2020 rund 1,58 Mrd. Euro bereitsteh­en. Ziele sind dabei u. a. Korruption­sbekämpfun­g, stärkere demokratis­che Einbindung der Bevölkerun­g in politische Entscheidu­ngen, Schutz der Grundrecht­e und Förderung einer unabhängig­en Justiz. Im zweitgrößt­en Bereich geht es um die sozioökono­mische und regionale Entwicklun­g (1,53 Mrd. Euro), etwa im Energie- oder Verkehrsbe­reich. Für Landwirtsc­haft und ländliche Entwicklun­g stellt die EU 912 Mio. Euro bereit und für Beschäftig­ung, Sozialpoli­tik, Bildung und Geschlecht­ergleichst­ellung 435 Mio.

Die kurzsichti­ge Erklärung der EU hat für unser Land keinen Wert. Das Außenminis­terium in Ankara in einer Aussendung

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