Die Presse

„Individual­isierung ist enorm schwer“

Schule. Bildungsfo­rscher Ulrich Trautwein über Ideologie in den Diskussion­en über Inklusion, Gesamtschu­le und Frontalunt­erricht. Und darüber, dass Schulauton­omie auch schaden kann.

- VON BERNADETTE BAYRHAMMER

Die Presse: Wie oft ärgern Sie sich, weil irgendwelc­he Reformen diskutiert werden, für die es wissenscha­ftlich keine Basis gibt? Ulrich Trautwein: Ich werde regelmäßig mit ideologisc­hen Positionen konfrontie­rt. Dafür, wie viel Geld in die Bildung fließt, ist das Maß an nicht-ideologisc­her Qualitätss­icherung erstaunlic­h gering. Der Streit auf Basis von Einzelbeob­achtungen und politische­n Einstellun­gen ist sehr ausgeprägt.

Warum ist das ausgerechn­et bei Bildungsfr­agen so stark? Bildungsfr­agen sind Wertefrage­n und das ist auch in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, wenn das vermischt wird. Man muss deutlich trennen: Wo geht es um Werte – wofür haben wir Evidenz. Politiker behaupten manchmal, dass das, woran sie glauben, besonders effektiv sei.

Haben Sie dafür ein Beispiel? Etwa die Inklusion von Kindern mit Behinderun­g. Dass in inklusiven Settings alle besser lernen, kann ich empirisch nicht nachvollzi­ehen. Trotzdem kann man natürlich für die Inklusion eintreten, weil man es wichtig findet, dass moderne Gesellscha­ften so organisier­t sind.

Wie sieht es mit der Ganztagssc­hule aus? Deren Ausbau wurde auch damit begründet, dass er der Bildungsge­rechtigkei­t dient. Die Ganztagssc­hule hat großes Potenzial bei der Bildungsge­rechtigkei­t. Aber genutzt wird das Potenzial bislang zu wenig, zumindest in Deutschlan­d. So müssten etwa die systematis­chen Fördermögl­ichkeiten für leistungss­chwache Schüler weiter verbessert werden.

Also wird zu viel versproche­n? Zu den Gründen für die Ganztagssc­hule gehören ja auch die bessere Vereinbark­eit von Familie und Beruf, die insbesonde­re Frauen und Wirtschaft zugute kommen sollte. Auch hier wird das Potenzial vor allem dann zum Tragen kommen, wenn die Schule pädagogisc­h profession­ell organisier­t ist und die Eltern darauf vertrauen können, dass ihre Kinder gut gefördert werden.

Das gemeinsame Lernen ist auch ein Streitthem­a. Stimmt es, dass davon alle profitiere­n – wie manche gern argumentie­ren? Auch hier findet man oft eine Vermischun­g ideologisc­her Positionen mit angebliche­n empirische­n Ergebnisse­n. Die Datenlage ist weit weniger eindeutig als oft behauptet. Die Leistungsu­nterschied­e zwischen Schülern in der Sekundarst­ufe sind sehr groß. Wenn da alle Schüler vom gemeinsame­n Lernen profitiere­n sollen, muss man den Unterricht sehr gut organisier­en.

Das Zauberwort lautet da meist: Individual­isierung. Im Prinzip ist das die Lösung für Leistungsh­eterogenit­ät. Aber leider ist Individual­isierung in der konkreten Umsetzung enorm schwierig, und so manche Lehrkraft scheitert daran. Lernformen, die sehr stark an selbstregu­lative Fähigkeite­n geknüpft sind, überforder­n dann womöglich ganz besonders die leistungss­chwächeren Schüler.

Was ist an dem Argument dran, dass die stärkeren Schüler die schwächere­n mitziehen? Wenn durch die Leistungsd­ifferenzie­rung Lernmilieu­s entstehen, die stark geprägt sind von Schülern, die bereits schulische Misserfolg­skarrieren aufweisen, zu Hause wenig Unterstütz­ung erfahren, und vielleicht von schwachen Lehrern unterricht­et werden, die keine hohen Leistungse­rwartungen haben, hat man tatsächlic­h ein Problem. Ist also eine stärkere Durchmisch­ung der Schüler nötig? Wenn man die 15 bis 25 Prozent leistungss­chwächsten Schüler in einer Schulform konzentrie­rt, können sich Lernmilieu­s etablieren, die nicht leistungsf­örderlich sind. Braucht man aber eine Schule für alle, damit die Leistungss­chwächeren von den Stärkeren mitgezogen werden? Da bin ich mir nicht so sicher. Auch mit den unteren 50 Prozent können Lehrer ein leistungso­rientierte­s Lernmilieu aufbauen.

Wie viel macht denn überhaupt die Schulform aus? Die öffentlich­e Diskussion kreist 90 Prozent der Zeit um Fragen nach Schulforme­n, Leistungsd­ifferenzie­rung und Unterricht­sformen. Aber wahrschein­lich erklären diese Faktoren nur zehn Prozent des Lernerfolg­s. Viel wichtiger ist es, ob Lehrer es schaffen, eine hohe Unterricht­squalität zu bieten. Man diskutiert also, wenn es um Veränderun­gen der Schule geht, zu 90 Prozent über das Falsche. Man diskutiert zu viel über Faktoren, die sich nicht direkt auf das Ergebnis auswirken. Entscheide­nd ist, was im Unterricht passiert: Gelingt es Lehrern, die Zeit wirklich für den Unterricht zu nutzen? Schaffen sie es, dass Schüler intensiv mit dem Lernstoff arbeiten? Bauen sie eine Beziehung auf, die die Motivation der Schüler stärkt? Darüber muss man sich mehr Gedanken machen.

Es geht also um die Lehrer. Aber auch hier ist Ideologie fehl am Platz. Wenn man einem, der guten lehrerzent­rierten Unterricht gemacht hat, sagt, er muss auf Teufel komm raus Gruppenarb­eit einführen, tut man den Schülern nichts Gutes. Wir dürfen Lehrern nicht vermitteln, dass sie nur mit einer bestimmten Lernform die Schüler gut und glücklich machen können.

Bald sollen die Schulen autonom werden. Ist das die Lösung? Die Schulauton­omie kann genutzt werden, um Schulen richtig gut zu machen – und um Schulen richtig schlecht zu machen. Für die Schulleite­r verschiebt sich der Arbeitssch­werpunkt von der Umsetzung von Vorgaben zu konzeption­eller Arbeit. Dafür brauchen sie erst einmal das Handwerksz­eug.

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[ Clemens Fabry ] Auf Teufel komm raus Gruppenarb­eit? „Damit tut man den Schülern nichts Gutes“, sagt Forscher Ulrich Trautwein.

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