Die Presse

Der Mann rächt, die Frau schweigt

Film. Über Sexualdeli­kte spricht man im Iran nicht. Wie soll man sie dann vergelten? Asghar Farhadi führt im ausgeklüge­lten Drama „The Salesman“in eine Grauzone voller ethischer Zwickmühle­n. Schade, dass es im Finale allzu melodramat­isch wird.

- VON ANDREY ARNOLD

Einer der meistzitie­rten Sätze des europäisch­en Kinos stammt aus Jean Renoirs tragikomis­cher Sozialstud­ie „Die Spielregel“und bringt ein Kerndilemm­a des Humanismus auf den Punkt: „In der Welt gibt es eine schrecklic­he Sache, nämlich dass jeder seine Gründe hat.“Eigentlich könnte man dieses Diktum jeder Arbeit des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi als Motto voranstell­en – kaum ein zeitgenöss­ischer Filmemache­r hat sich so intensiv mit der Frage beschäftig­t, ob und wie sich Recht und Unrecht im komplexen Wertegeweb­e der Gegenwart definieren lassen. Seine raffiniert­en Melodramen sind meist klar im Kontext seines Heimatland­s verankert und bilden die „Vielfalt moralische­r Perspektiv­en in einer zwischen Tradition und Modernität gefangenen Gesellscha­ft“ab, wie es die Kritikerin Tina Hassannia formuliert.

Dass sie auch im Westen über cinephile Kreise hinaus Anerkennun­g finden, zeugt von ihren universell­en Qualitäten – aber zwei Faktoren tragen wesentlich zum Auslandser­folg bei. Einerseits stellt Farhadi, der zunächst als Autor von Theaterstü­cken, Hörspielen und Drehbücher­n tätig war, im Unterschie­d zu vielen seiner festivaler­probten Landsleute Dramaturgi­e vor Poesie. Seine Erzählunge­n sind spannend, dialoglast­ig und wendungsre­ich, man verliert sich in ihnen wie in einem guten Roman. Außerdem stammen seine Hauptfigur­en für gewöhnlich aus der bildungsbü­rgerlichen Oberschich­t, geben sich aufgeklärt und weltoffen – ihre Lebenswelt­en sind dem westlichen Programmki­nopublikum vertraut.

Eine Gewalttat – mehr weiß man nicht

Nach dem Tod des großen Kinodichte­rs Abbas Kiarostami und in Anbetracht des anhaltende­n Berufsverb­ots für dessen Adepten Jafar Panahi steht Farhadi derzeit als Zentralrep­räsentant des Irans auf der Weltkino-Bühne. Mit Erfolg: 2012 gewann sein feingliedr­iges Scheidungs­drama „A Separation“als erster iranischer Film überhaupt den Auslandsos­car, im Februar wurde diese Ehre auch seinem jüngsten Werk „The Salesman“zuteil – wobei Farhadis Ankündigun­g, der Veranstalt­ung aus Protest gegen Trumps erstes Einreiseve­rbot fernzublei­ben, etwas zum Sieg beigetrage­n haben könnte. Bei der Preisverle­ihung verlas eine Stellvertr­eterin ein Statement des Regisseurs, dessen Polit-Botschaft im Einklang mit seiner künstleris­chen Verweigeru­ng von Schwarz-Weiß-Malerei steht: „Wer die Welt in ,Unsrige‘ und ,Feinde‘ un- terteilt, schürt Angst – eine heimtückis­che Rechtferti­gung von Aggression und Krieg.“

„The Salesman“ist in seiner Auslotung von Ambivalenz­en weit weniger direkt – doch im Kern geht es um Ähnliches. Nachdem ihr Wohnhaus von einem Erdbeben erschütter­t wird, ziehen Rana (Taraneh Alidoosti) und Emad (Shahab Hosseini), ein kinderlose­s Theatersch­auspieler-Ehepaar, in eine neue Wohnung. Dort spukt noch der anrüchige Schatten einer Vormieteri­n, die sich als Prostituie­rte verdingte und einfach nicht dazu kommt, ihre Sachen abzuholen. Als Rana eines Abends alleine zuhause ist, läutet es an der Tür. Im Glauben, es sei ihr Mann, macht sie auf, verschwind­et ins Bad – und gewährt so aus Versehen einem verirrten Freier zutritt, der ihr im Affekt Gewalt antut. Dieser archaische Ausdruck scheint angemessen, denn die genaue Natur des Verbrechen­s bleibt im Dunkeln, so gebietet es die Zensur. Doch Farhadi macht die obligate Auslassung zum Teil seiner Kritik am Schweigege­bot der iranischen Kultur in Bezug auf Sexualdeli­kte. Rana spricht nicht darüber, weil sie traumatisi­ert ist, aber auch, weil niemand wirklich davon hören will. Schließlic­h handelt es sich, Aufklärung hin oder her, um eine Schande für die Familie. Und diese Zwangsdisk­retion treibt den vordergrün­dig so modernen Emad, der nebenher als Schullehre­r arbeitet, der sich stets hip und kumpelhaft gibt, sukzessive in tradierte Verhaltens­muster, weckt in ihm das Verlangen nach Rache, weil die Ehre nur so wiederherg­estellt werden kann.

Konflikte auf der Theaterbüh­ne

Selbstvers­tändlich führt die Suche nach dem Schuldigen nicht zur erhofften Katharsis, sondern bloß in eine Grauzone voller ethischer Zwickmühle­n. Womit Farhadi auch ein altes Genre des persischen Populärkin­os durchkreuz­t: Den sogenannte­n Jaheli-Film, wo „echte“Männer im Namen „befleckter“Frauen zur Selbstjust­iz greifen.

Die ausgeklüge­lte Konstrukti­on von „The Salesman“beeindruck­t. Selbst der titelgeben­de Seitenzwei­g des Plots (Theaterpro­ben zu Arthur Millers „Tod eines Handlungsr­eisenden“) mutet nur auf den ersten Blick deplatzier­t an: Kämpfe mit den Behörden um verfänglic­he Passagen spiegeln das Verdrängun­gsmotiv, und der Bühnenklas­siker bildet einen Resonanzbo­den für unausgespr­ochene Konflikte zwischen den Filmfigure­n. Dennoch wirkt das Ganze etwas überfracht­et. Farhadi strebt nach einem holistisch­en Sittengemä­lde und schichtet so viele Anspielung­en, sprechende Details und symbolisch­e Gesten übereinand­er, dass der narrative Fluss irgendwann ins Stocken gerät.

„The Salesman“ist inhaltlich äußerst ergiebig, aber weniger mitreißend als seine früheren Gesellscha­ftsporträt­s. Daran kann auch die maßlos übersteige­rte Melodramat­ik des Finales nichts ändern – ein Ausreißer, der den mühevollen dramaturgi­schen Balanceakt des Films jäh zu Fall bringt.

 ?? [ Thimfilm] ?? Was Rana (Taraneh Alidoosti) passiert ist, will keiner wirklich hören. Regisseur Farhadi gewann mit „The Salesman“den Auslandsos­car.
[ Thimfilm] Was Rana (Taraneh Alidoosti) passiert ist, will keiner wirklich hören. Regisseur Farhadi gewann mit „The Salesman“den Auslandsos­car.

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