Die Presse

Würden Sie im Namen der Wissenscha­ft foltern und töten?

Psychologi­e. Das Milgram-Experiment, dessen Befund so erschütter­nd war wie sein eigenes Design, wurde wieder durchgefüh­rt, diesmal in Polen: Auch dort und heute handeln Menschen unter Autoritäts­druck exakt so wie einst: Sie handeln nicht, sondern unterwer

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Sind Menschen dazu fähig, irgendjema­nden, dem sie überhaupt nicht kennen, Fürchterli­ches anzutun? Und wenn sie es nicht aus eigenen Stücken sind, kann man sie mit einfachste­n Mitteln dazu bringen? Die Frage drängte sich auf, als in Nürnberg über die Kriegsverb­rechen der Deutschen verhandelt wurde und viele Angeklagte nicht verstehen konnten, weshalb sie angeklagt waren: Sie hätten doch nur Befehle befolgt. Das kam so stereotyp, dass es als „Nürnberger Verteidigu­ng“in die Lehrbücher der Juristen einging.

Und in die der Psychologe­n als „Germans-are-different“: Ihre Obrigkeits­hörigkeit kenne keine Grenzen. Das wurde in aller Schärfe aktualisie­rt, als 1961 in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann begann, der Verkörperu­ng der „Banalität des Bösen“, die Hanna Arendt als Prozessbeo­bachterin in ihm sah. Drei Monate früher hatte an der Yale-University etwas ganz Anderes begonnen: „Persons needed for a study of memory“, stand auf einem Rekrutieru­ngszettel, vier Dollar werde es für die Mühe geben.

Wer der Forschung helfen wollte oder Geld brauchte, wurde vom Versuchsle­iter, dem Psychologe­n Stanley Milgram, begrüßt und eingeführt, gemeinsam mit einem Partner: Es gehe darum zu klären, ob sich Lernen durch Strafen fördern lasse. Deshalb sei der eine Proband der „Lehrer“und der andere der „Schüler“, beim Lernen ging es um das Zuordnen von Worten. Und bei der Strafe ging es um Elektrosch­ocks, die der Lehrer verabreich­en sollte: Der Schüler wurde auf einer Art elektrisch­em Stuhl fixiert, die Stärke des Schocks wurde von Fehler zu Fehler gesteigert, am Beginn standen 45 Volt, der Lehrer bekam die zur Informatio­n zu spüren, zugleich erfuhr er, der Schüler sei herzkrank.

Dann nahm der Experiment­ator den Lehrer mit in einen Nebenraum, es gab nur noch akustische Verbindung zum Schüler. Bei 70 Volt war ein Stöhnen zu hören, bei 120 Volt ein Schrei („mein Herz!“), bei 200 Volt ein Schrei, der „das Blut in den Adern gefrieren ließ“(Laborproto­koll), ab 330 Volt wurde es still. Trotzdem gingen 90 Prozent der Lehrer weiter, Zweifel wurden von Milgram, der Autorität im weißen Kittel, stereotyp erstickt: „Sie müssen unbedingt weiter machen“, „Machen Sie weiter, Sie haben keine Wahl“.

Zusammenbr­uch der Testperson­en

Anschließe­nd erfuhren die Testperson­en, dass sie niemandem ein Leid getan hatten, alles war fingiert, die Schreie kamen vom Band. Das half vielen Probanden nicht, manche waren schon während des Experiment­s zusammenge­brochen, andere leiden noch heute daran, allerdings erhielt Milram auch Dankesbrie­fe: Dank dafür, was Teilnehmer über sich gelernt hatten. – Der American Psychologi­cal Associatio­n gefiel das Ganze trotzdem nicht, sie schloss Milgram für ein Jahr aus, er selbst empfand es später auch als „ethisch fragwürdig, Menschen in das Labor zu locken und sie in eine Lage zu bringen, die belastend ist.“Trotzdem wurde das Experiment wiederholt, in vielen Ländern und zu vielen Zeiten. Die änderten sich, aber die Befunde, also die Menschen blieben die gleichen: Autoritäte­n entlasten vom eigenen Urteil und von Moral.

Allerdings änderte sich auch die Ethik in der Forschung: Dieser Menschenve­rsuch, der selbst an Folter grenzt, wurde immer seltener genehmigt, oft in milderer Form. In einer solchen wurde er nun wiederholt, von Tomasz Grzyb in Polen (Soc. Psych. Pers. Sci. 14. 3.). Man weiß nicht warum, man weiß nicht wozu, man weiß auch nicht, wie es den Testperson­en geht/gehen wird. Nur das Ergebnis ließ sich unschwer erahnen: Der Gehorsam war „ähnlich hoch wie im OriginalEx­periment Milgrams“: 90 Prozent.

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