Ankaras Drohung geht ins Leere
Analyse. Wieder einmal warnt die Türkei davor, das Flüchtlingsabkommen aufzukündigen und die EU mit Migranten zu überschwemmen. Die Folgen wären aber überschaubar.
Wien. In der immer schriller werdenden Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU hat Ankara jetzt erneut die Flüchtlingskarte gezückt. Die Regierung in Ankara werde eine Vereinbarung mit Brüssel zur Rücknahme von Migranten aufkündigen und in Hinkunft keine Flüchtlinge von Griechenland zurücknehmen, kündigte Außenminister Mevlüt C¸avus¸og˘lu am späten Mittwochabend in einem türkischen Fernsehinterview an. Die Drohung wirkte: In Europa gab es besorgte Reaktionen, dass eine neue Flüchtlingsschwemme drohen könnte.
Ein Sprecher der EU-Kommission betonte, dass die europäische Seite weiter zu den Abmachungen stehe. Man erwarte, dass dies auch die Türkei tue. Österreichs Verteidigungsminister, Hans Peter Doskozil, sagte, dass man sich auf eine tatsächliche Aufkündigung des Paktes durch die Türkei nur dadurch vorbereiten könne, dass man die EUAußengrenzen noch besser schütze. Er verwies erneut auf seinen Vorschlag einer EUGrenzschutzmission mit Militärs.
Doch dass die Türkei die Vereinbarungen mit der EU gänzlich platzen lassen könnte, wird von vielen Experten bezweifelt. Tatsächlich sprach C¸avus¸og˘lu von zwei verschiedenen Abkommen. Schon im Jahr 2013 wurde zwischen Brüssel und Ankara ein Rückführungsabkommen abgeschlossen. Die Türkei verpflichtete sich damals, illegal in die EU reisende Migranten zurückzunehmen. Im Gegenzug wurde den Türken die Visaliberalisierung in Aussicht gestellt. Das Abkommen funktionierte letztlich nicht, wie das Jahr 2015, als mehr als eine Million Flüchtlinge ungehindert nach Europa kamen, zeigte. Dieses ohnehin nicht funktionierende Abkommen will Ankara jetzt gänzlich streichen, weil, so der Minister, beim Thema Visa nichts weitergehe.
Vor einem Jahr wurde auf Betreiben von Angela Merkel eine weitere, diesmal effektivere Vereinbarung der EU mit Ankara unterzeichnet, und die trat Ende März 2016 in Kraft. Sie sieht vor, dass die EU alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen und kein Asyl erhalten, zurückschicken kann. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden zurückgeschickten Migranten offiziell einen Flüchtling auf.
Diesen neuen Flüchtlingspakt will Ankara jetzt „evaluieren“, sagte C¸avus¸og˘lu. Ob er tatsächlich aufgekündigt wird, darf angezweifelt werden. Denn immerhin ist vereinbart, dass die EU dafür bis 2018 sechs Milliarden Euro für türkische Flüchtlingsprojekte zur Verfügung stellt. Davon sind erst etwa zwölf Prozent ausgezahlt worden.
Tatsächlich ist die Zahl der Flüchtlinge seit März 2016 drastisch zurückgegangen. Seither kommen im Schnitt pro Monat nur 1200 Flüchtlinge in Griechenland an. 2015 waren es fast hundertmal mehr. Doch dieser drastische Rückgang ist nur zum Teil auf den Flüchtlingsdeal zurückzuführen. Eher auf die weitgehende Schließung der Balkanroute, die wenige Wochen davor von mehreren Ländern der Region – und auch Österreich – beschlossen wurde. Für potenzielle Flüchtlinge in der Türkei war von da an klar: Entweder man steckt auf griechischen Inseln fest oder kommt über den Balkan kaum weiter. Dimitris Christopoulos, Präsident der International Federation for Human Rights fasste dies jüngst so zusammen: „Damit wird eine Botschaft an Migranten geschickt: Kommt nicht.“
Nur 900 Flüchtlinge rückgeführt
In der Sache selbst sind die Zahlen eher mäßig: So wurden seit März 2016 bis heute im Zuge des Deals mit Ankara lediglich etwa 900 Migranten zurück in die Türkei abgeschoben, das sind weniger als 80 pro Monat. Umgekehrt übernahm die EU auf legalem Weg mehr als 3000 Syrer.
Die türkische Drohung einer Aufkündigung des gesamten Paktes dürfte auch aus einem anderen Grund ins Leere gehen: 2015 konnten Flüchtlinge aus Syrien ungehindert in die Türkei kommen und von dort mit Schleppern über die weitgehend offenen Grenzen Richtung Europa weiterziehen. Selbst aus dem Libanon und Jordanien, wo Hunderttausende syrische Flüchtlinge leben, war es leicht möglich, in die Türkei zu fliegen. Erdogan˘ hat aber mittlerweile aus Angst vor einem Einsickern von Terroristen die Grenze abgeriegelt, syrische Flüchtlinge dürfen nicht mehr in seinen Staat – weder auf dem Land- noch auf dem Luftweg. Nicht wenige Türkei-Experten sind daher der Meinung, dass zwar vermehrt Flüchtlinge versuchen könnten, in die EU zu gelangen, einen Massenansturm werde es aber nicht geben.