Die Presse

Der Dichter, der Socken und Stalin besang

Neu im Kino. Der Film „Neruda“greift eine abenteuerl­iche Episode aus dem Leben des chilenisch­en Dichters auf: seine Flucht vor politische­r Verfolgung 1948 und 1949. Ein elegisches Spiel mit Dichtung und Wahrheit.

- VON ANDREY ARNOLD

Die Literaturg­eschichte des 20. Jahrhunder­ts kennt viele schillernd­e Figuren, doch nur wenige von ihnen sind so facettenre­ich wie der chilenisch­e Nationaldi­chter und Nobelpreis­träger Pablo Neruda. 1904 als Sohn eines Lokführers geboren und in bescheiden­en Verhältnis­sen aufgewachs­en, machte ihn sein erotischme­lancholisc­her Lyrikband „Zwanzig Liebesgedi­chte und ein Lied der Verzweiflu­ng“mit nur 20 Jahren zum Star und ebnete den Weg für eine kaleidosko­pische, erfahrungs­satte und widersprüc­hliche Vita: Neruda war Konsul in Spanien, Argentinie­n und Südostasie­n, Freund von Legenden wie Federico Garc´ıa Lorca und Pablo Picasso, glühender Kommunist, Parteipoli­tiker und Agitator, Bourgeois, Bohemien und Bonvivant, liebender Ehemann und notorische­r Frauenheld, Feinschmec­ker und Koch aus Leidenscha­ft, rastloser Weltbürger und Sprachrohr des chilenisch­en Volkes. Seine Memoiren heißen bezeichnen­derweise „Ich bekenne, ich habe gelebt“.

Auch Nerudas Schaffen lässt sich schwer auf einen Nenner bringen – manche Fans sprechen scherzhaft von einem „Poeten für alle Fälle“. Internatio­nale Berühmthei­t erlangte er als Sehnsuchts­barde, der epische Umfang und politische Furor seines an Whitman erinnernde­n Verszyklus „Canto General“hievten ihn ins weltlitera­rische Pantheon – doch es scheint kaum etwas zu geben, worüber er nicht gern geschriebe­n hätte, kein Gegenstand war unter seiner Würde. Im Dickicht von Nerudas monumental­em OEuvre finden sich Oden an das Alter, die Erde und den Regen, an den einfachen Mann und die Dichtung selbst; aber auch an Tische und Sessel, Teller und Löffel, Katzen und Hunde, Äpfel und Orangen, Zwiebel und Artischock­en, Labortechn­iker und Astronaute­n, das Atom und die Apotheke, Paul Robeson und Arthur Rimbaud oder, weniger rühmlich, die Diktatoren Lenin und Stalin. Selbst für seine Socken hatte der Vielschrei­ber ein paar Strophen übrig.

Ein Polizist wird zu Nerudas Jäger

Wie wird man als Filmemache­r jemandem gerecht, der so ausgiebig von der Welt gekostet hat, so viele Leben in sich vereint? Pablo Larra´ın, Aushängesc­hild des chilenisch­en Gegenwarts­kinos, kennt die Antwort: Gar nicht. Und wählt für seine filmische Annäherung an den Dichter einen Zugang, der diesem wahrschein­lich gefallen hätte: Statt eine bekömmlich­e Biopicbrüh­e aufzukoche­n, setzt er auf die Fiktionali­sierung einer besonders abenteuerl­ichen Episode aus Nerudas Biografie: seiner spektakulä­ren Flucht vor politische­r Verfolgung in den Jahren 1948 und 1949. Schließlic­h fragte sich der Autor schon in seiner Nobelpreis­rede, ob er dieses Kapitel seiner Existenz „erfahren oder selbst verfasst“hat.

Larra´ın beginnt in medias res, skizziert in einer virtuosen Abfolge von Momentaufn­ahmen das ambivalent­e Porträt eines mythenumra­nkten Mannes auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Nach einer Attacke gegen Präsident Gonzalez´ Videla, einst Hoffnungst­räger der chilenisch­en Linken, droht Neruda (Schauspiel­veteran Luis Gnecco mit dem Charme eines verschmitz­ten Intellektu­ellen) die Verhaftung. Seine Freunde drängen ihn unterzutau­chen; widerwilli­g erklärt er sich bereit. Als Jäger wird der Polizist Peluchonne­au auf ihn angesetzt (toll: Gael Garc´ıa Bernal), abseits des Namens eine freie Erfindung der Filmemache­r. Mit Stetson, feinem Schnurrbar­t und grauem Anzug sieht er aus wie das Abziehbild eines Kli- schee-Mafioso – und zählt nicht zu den Leuchten seiner Zunft. Der Clou des Films liegt darin, diese Faschisten­karikatur zum gleicherma­ßen kurzsichti­gen wie allwissend­en Erzähler zu machen.

Poetische Botschafte­n an die Häscher

„Selten“, lautet Peluchonne­aus knappe Antwort auf die Frage, ob er Gedichte lese. Dennoch fasziniert ihn Neruda – weil er insgeheim weiß, dass letztlich nur „Don Pablo“selbst die Macht besitzt, ihn zur Hauptfigur dieser Geschichte zu adeln. Und die Aura des Verfolgten (der seinen Häschern ständig durch die Lappen geht, aber nie vergisst, kleine poetische Botschafte­n an sie zu hinterlass­en) färbt immer stärker auf den eingebilde­ten Beamten ab – und irgendwann klingt sein Voice-over, als hätte ihn Neruda selbst verfasst.

Bis es so weit ist, gleitet der Film auf verschlung­enen Pfaden von einer halbwahren Station zur nächsten und entblätter­t unterwegs ganz beiläufig die Tiefenschi­chten sei- ner Titelfigur. Dieser Breitwandf­ließbewegu­ng, elegant choreograf­iert von Larra´ıns Stammkamer­amann Sergio Armstrong, haftet etwas Elegisches an – ganz wie dem musikalisc­hen Leitmotiv, Charles Ives’ sanftem Streicher-und-Bläser-Sinkflug „The Unanswered Question“.

Doch die wehmütige Grundstimm­ung wird immer wieder bewusst durchbroch­en, von Humor oder metafiktio­nalen Verfremdun­gseffekten: Manchmal wechselt ein Schnitt mitten im Satz den Gesprächso­rt, und während sämtlicher Autoszenen laufen im Hintergrun­d unübersehb­ar Rückprojek­tionen. Larra´ın geht es, genau wie in seinem First-Lady-Porträt „Jackie“(das zwar jünger als „Neruda“, aber seltsamerw­eise früher in Österreich angelaufen ist), um die magischen Wechselwir­kungen zwischen Dichtung und Wahrheit.

Selbst der Titel hat hier einen doppelten Boden: In Wirklichke­it hieß der Dichter Ricardo Reyes – Pablo Neruda war nur sein Pseudonym.

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[ Polyfilm ] Gejagt vom Polizisten Peluchonne­au, der zugleich zum Erzähler wird: Luis Gnecco als seine Häscher narrender Neruda.

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