Europa ist sich wieder einmal uneins – na und?
Warum es ganz und gar keine besonders gute Idee ist, die unterschiedlichen Interessen der EU-Mitgliedstaaten brachial vereinheitlichen zu wollen.
Es gibt vermutlich kaum ein anderes Paar von Begriffen, das dem typischen Medienkonsumenten öfter entgegenkommt als „EU“und „zerstritten“. Wann immer sich die 28 Regierungschefs der Union in den vergangenen Jahren getroffen haben, entstand in den Medien das Bild eines Hühnerhofes ohne Hahn, in dem alle ebenso aufgeregt wie planlos durcheinandergackern, ohne irgendetwas zusammenzubringen.
Zuletzt wieder, als türkische Politiker in mehreren EU-Staaten Wahlkampfauftritte im Zusammenhang mit der nahenden Volksabstimmung über die Umwandlung der Türkei in ein autoritäres Operetten-Sultanat abhalten wollten. Die einen (etwa die Niederlande) lehnen das strikt ab und schmeißen türkische Minister kurzerhand aus dem Land; die anderen (etwa Frankreich) lassen das nonchalant zu. Deutschland wiederum verfällt in lavierende Duldungsstarre nach Merkel’scher Art. Und schon ist „die EU“wieder mal „zerstritten“, business as usual.
Doch die darob zwangsläufig bei den meisten Europäern entstehende Gewissheit, das politische Personal sei zu dumm, zu unfähig, zu faul, zu machtbesessen oder zu wasauchimmer, um sich auf einen vernünftigen Kompromiss einigen zu können, ist weitgehend falsch.
In den meisten Fällen geht es nämlich nicht um eine Art Kindergarten – hier geht es einfach um unterschiedliche, aber meist legitime Interessen der einzelnen Staaten. Denn es ist das gute Recht der Franzosen und ihrer Regierung, türkische Wahlkampfauftritte für eher zulässig zu halten, genauso wie es das gute Recht der Niederländer ist, dies nicht zu wollen. Das Gleiche gilt für fast alle Causen, in denen die EU in letzter Zeit zerstritten war.
Es ist das gute Recht der Schweden, sich zu einem „multikulturellen Staat“zu erklären, aber auch das gute Recht der Polen, genau das nicht zu wollen. Es ist auch das gute Recht der Deutschen, so viele Migranten aufzunehmen, wie sie wollen, wie es auch das gute Recht der Ungarn ist, so wenige Migranten wie möglich ins Land zu lassen. In den USA gibt es ja auch Bundesstaaten mit und solche ohne Todesstrafe . . .
Europas Völker sind, auch wenn das in Brüssel als Ketzerei empfunden wird, in vieler Hinsicht sehr unterschiedlich. Sie haben diverse Präferenzen und Lebensstile, Neigungen und Abneigungen. Dabei handelt es sich nicht um Folkloristisches, sondern um zutiefst Politisches, nicht zuletzt geprägt durch höchst unterschiedliche kollektive religiöse, kulturelle, geostrategische oder auch ökonomische Erfahrungen und daraus resultierende Prägungen. Aus dieser Vielfalt hat sich einerseits der Aufstieg Europas zur globalen Leitkultur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gespeist – andererseits behindert das natürlich das Entstehen einer echten Union.
Wer aber versucht, im Interesse der Idee einer „immer engeren Union“diese unterschiedlichen Neigungen, kulturellen Eigenarten und nationalen Interessen mit (politischer) Gewalt zu plätten, wird Schiffbruch erleiden – und auch der Idee der Union mehr schaden als nutzen.
Wer Europa übermäßig homogenisieren will, wird nämlich schnell als Usurpator wahrgenommen werden; erzwungene Gleichheit aber macht Lust auf Sezession.
Wenn sich die Regierungschefs der EU Ende nächster Woche in Rom treffen, um den 60. Geburtstag der „Römischen Verträge“, in denen diese „immer engere Union“festgeschrieben wurde, würdevoll zu begehen, wird die Unsicherheit über die Zukunft, ja die Existenz der Union so stark sein wie kaum je zuvor in den vergangenen sechs Jahrzehnten. Und natürlich wird da auch durchaus richtigerweise argumentiert werden, dass ein einiges Europa stärker ist als die Summe seiner Teile, gerade in der Politik nach außen.
Nur: Wenn diese Einigkeit erzwungen wird – etwa in der Migrationsfrage durch die Drohung, Zuwendungen zu stoppen – dann wird der politische Preis der Einigkeit viel höher sein als der Nutzen, der damit zu erzielen ist.