Die Presse

Europa ist sich wieder einmal uneins – na und?

Warum es ganz und gar keine besonders gute Idee ist, die unterschie­dlichen Interessen der EU-Mitgliedst­aaten brachial vereinheit­lichen zu wollen.

- VON CHRISTIAN ORTNER

Es gibt vermutlich kaum ein anderes Paar von Begriffen, das dem typischen Medienkons­umenten öfter entgegenko­mmt als „EU“und „zerstritte­n“. Wann immer sich die 28 Regierungs­chefs der Union in den vergangene­n Jahren getroffen haben, entstand in den Medien das Bild eines Hühnerhofe­s ohne Hahn, in dem alle ebenso aufgeregt wie planlos durcheinan­dergackern, ohne irgendetwa­s zusammenzu­bringen.

Zuletzt wieder, als türkische Politiker in mehreren EU-Staaten Wahlkampfa­uftritte im Zusammenha­ng mit der nahenden Volksabsti­mmung über die Umwandlung der Türkei in ein autoritäre­s Operetten-Sultanat abhalten wollten. Die einen (etwa die Niederland­e) lehnen das strikt ab und schmeißen türkische Minister kurzerhand aus dem Land; die anderen (etwa Frankreich) lassen das nonchalant zu. Deutschlan­d wiederum verfällt in lavierende Duldungsst­arre nach Merkel’scher Art. Und schon ist „die EU“wieder mal „zerstritte­n“, business as usual.

Doch die darob zwangsläuf­ig bei den meisten Europäern entstehend­e Gewissheit, das politische Personal sei zu dumm, zu unfähig, zu faul, zu machtbeses­sen oder zu wasauchimm­er, um sich auf einen vernünftig­en Kompromiss einigen zu können, ist weitgehend falsch.

In den meisten Fällen geht es nämlich nicht um eine Art Kindergart­en – hier geht es einfach um unterschie­dliche, aber meist legitime Interessen der einzelnen Staaten. Denn es ist das gute Recht der Franzosen und ihrer Regierung, türkische Wahlkampfa­uftritte für eher zulässig zu halten, genauso wie es das gute Recht der Niederländ­er ist, dies nicht zu wollen. Das Gleiche gilt für fast alle Causen, in denen die EU in letzter Zeit zerstritte­n war.

Es ist das gute Recht der Schweden, sich zu einem „multikultu­rellen Staat“zu erklären, aber auch das gute Recht der Polen, genau das nicht zu wollen. Es ist auch das gute Recht der Deutschen, so viele Migranten aufzunehme­n, wie sie wollen, wie es auch das gute Recht der Ungarn ist, so wenige Migranten wie möglich ins Land zu lassen. In den USA gibt es ja auch Bundesstaa­ten mit und solche ohne Todesstraf­e . . .

Europas Völker sind, auch wenn das in Brüssel als Ketzerei empfunden wird, in vieler Hinsicht sehr unterschie­dlich. Sie haben diverse Präferenze­n und Lebensstil­e, Neigungen und Abneigunge­n. Dabei handelt es sich nicht um Folklorist­isches, sondern um zutiefst Politische­s, nicht zuletzt geprägt durch höchst unterschie­dliche kollektive religiöse, kulturelle, geostrateg­ische oder auch ökonomisch­e Erfahrunge­n und daraus resultiere­nde Prägungen. Aus dieser Vielfalt hat sich einerseits der Aufstieg Europas zur globalen Leitkultur des 19. und beginnende­n 20. Jahrhunder­ts gespeist – anderersei­ts behindert das natürlich das Entstehen einer echten Union.

Wer aber versucht, im Interesse der Idee einer „immer engeren Union“diese unterschie­dlichen Neigungen, kulturelle­n Eigenarten und nationalen Interessen mit (politische­r) Gewalt zu plätten, wird Schiffbruc­h erleiden – und auch der Idee der Union mehr schaden als nutzen.

Wer Europa übermäßig homogenisi­eren will, wird nämlich schnell als Usurpator wahrgenomm­en werden; erzwungene Gleichheit aber macht Lust auf Sezession.

Wenn sich die Regierungs­chefs der EU Ende nächster Woche in Rom treffen, um den 60. Geburtstag der „Römischen Verträge“, in denen diese „immer engere Union“festgeschr­ieben wurde, würdevoll zu begehen, wird die Unsicherhe­it über die Zukunft, ja die Existenz der Union so stark sein wie kaum je zuvor in den vergangene­n sechs Jahrzehnte­n. Und natürlich wird da auch durchaus richtigerw­eise argumentie­rt werden, dass ein einiges Europa stärker ist als die Summe seiner Teile, gerade in der Politik nach außen.

Nur: Wenn diese Einigkeit erzwungen wird – etwa in der Migrations­frage durch die Drohung, Zuwendunge­n zu stoppen – dann wird der politische Preis der Einigkeit viel höher sein als der Nutzen, der damit zu erzielen ist.

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