Ein Bagatell-Faust in der maroden großen Welt
Opera´ de Paris. Luca Francesconi hat es mit „Trompe-la-mort“gewagt, Balzacs vielbändige „menschliche Komödie“auf zwei Opernstunden zu reduzieren und schuf eine durchaus spannende, bunte Szenenfolge um einen neuen Mephisto.
Aus Wiener Perspektive betrachtet, hatte diese Premiere etwas von einem Versuch, Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“musiktheatralisch auf zwei Stunden Spielzeit zu kondensieren. Aber, genau genommen war ja schon Honore´ de Balzacs Projekt einer auf mehr als zehn Dutzend Bände angelegten „Menschlichen Komödie“der Inbegriff künstlerischer Hybris. Also darf vielleicht auch ein Komponist versuchen, einige wenige Figuren aus Balzacs mehr als tausendköpfigem Personenverzeichnis auf die Opernbühne zu holen und jeweils auf ihre Essenz zu reduzieren.
„Trompe-la-mort“, jüngst im Palais Garnier uraufgeführt, stellt also eine Art musikalisch verbrämte Momentaufnahme dar. Zum Brennpunkt des spontanen Blicks auf Balzacs literarischen Kosmos hat Librettist und Komponist Luca Francesconi seinen Titelhelden gemacht, der auch in Balzacs Romanen wechselnde Gestalt annimmt, Trompela-mort alias Vautrin alias Jacques Collin alias Carlos Herrera.
Mephisto wird Polizeichef
Als Priester Herrera rettet er den lebensmüden Lucien du Rubempre´ vor dem Selbstmord, nur um ihn danach durch einen veritablen Teufelspakt an sich zu binden. Lucien wird Herreras willfährige Marionette und erobert als charmanter Dandy die Herzen allerhöchster Damen. Herrera sammelt inzwischen kompromittierende Details über das Leben der Pariser Hautevolee.
Nach sozialer Blitzkarriere und jähem Fall endet der Bagatell-Faust dann doch im Suizid. Sein mephistophelischer Animator jedoch avanciert dank des belastenden Materials über Börsenspekulanten, Gräfinnen und Herzogin zum Polizeichef . . .
Fiktion und Wirklichkeit fließen in der neuen Oper wie in Balzacs Sittenbildern ineinander. Die Szenen, zusammengehalten durch Rückblenden auf das erste Zusammentreffen der beiden Männer, werfen Schlaglichter auf Affären der großen Pariser Gesellschaft – sexuelle wie finanzielle Abhängigkeit, kristallisiert in Miniatur-Nummern, die sich musikalisch jeweils vor einheitlichen Klangkulissen abwickeln.
Deren vom Pariser Orchester unter Susanna Mälkki klangschön zelebrierte geschmäcklerische Subtilität spiegelt sich in den Bühnenbildern, Kulissenfragmenten mit Projektionen großmannssüchtiger Haußmann-Architektur.
Man hört gleich zu Beginn die für die Postmoderne notorischen gleitenden, aus Glissandi und zischelnden Chorstimmen gebildeten Klangfelder, in die sich Dreiklangstrukturen oder prägnant instrumentierte Haltetöne einbetten. Daran wiederum können sich die Sänger orientieren, wenn sie in meist simplen Tonreihen den Text deklamieren. Hie und da ein paar Sätze in Extremlagen – und einmal, für Esther, die Hauptperson von Balzacs „Glanz und Elend der Kurtisanen“, eine wirklich ariose Pas- sage: Mit ihr darf sich Julie Fuchs vokal von allen Kollegen abheben.
Im Übrigen ist weniger stimmliche denn darstellerische Charakterisierungskunst gefordert. Das bringt, geführt von Guy Cassier, die gesamte Premierenbesetzung reichlich mit. Von den oft tänzerisch rhythmisierten, kabarettistischen Auftritten eines clownesken Spionage-Terzetts und Marc Labonnettes als Baron de Nucingen bis zu Eifersuchtsattitüden der geschäftig-intriganten Asie von Ildiko´ Komlosi´ oder der liebeskranken Comtesse de Serizy´ (Beatrice´ Uria-Monzon).
Dandy versinkt im Gesellschaftsspiel
Der schöne lyrische Tenor von Cyrille Dubois – wiewohl als Lucien die zentrale Figur, um die sich im Marionettentheater von „Trompe-la-mort“alles dreht – droht zwischen solch einprägsamen Episoden beinah zerrieben zu werden; zu wenige prägnante Passagen gönnt ihm der Komponist.
Hingegen hat Laurent Naouri in der Titelpartie epochale Auftritte, vor allem zuletzt, wenn er nach ungeniert offenherziger Darstellung seiner Rolle als Anwalt des Bösen durch unverfrorene Erpressung sich selbst zum obersten Ordnungshüter macht.
Luca Francesconis Partitur zum selbstgedichteten Balzac-Digest taugt mehrheitlich zumindest als – vom Publikum offenbar als harmlos empfundene, zum Teil mit witzigen Stilzitaten unterspickte – Hintergrundberieselung für das durchaus kurzweilige Spektakel. In zwei pausenlosen Stunden können literarisch Interessierte trotz, oder vielleicht sogar wegen der äußersten Verknappung der Dramaturgie vielleicht durchaus auch das Charakterbild des Dichters Honore´ de Balzacs wiedererkennen, wie sein Lucien ein ewiger Parvenü, aber gleichzeitig einer der tiefsinnigsten Analytiker seiner – und wohl nicht nur seiner – Zeit.