Die Presse

Die Seele von Weimar

Film. Eine Retrospekt­ive des Filmarchiv­s Austria zeigt, was Siegfried Kracauer als Anschauung­smaterial zu seiner Analyse „Von Caligari zu Hitler“diente.

- VON ANDREY ARNOLD

In der Retrospekt­ive „Von Caligari zu Hitler“sind viele neu restaurier­te Filmklassi­ker der Weimarer Republik zu sehen.

Der Filmkritik­er von Rang“, schrieb Siegfried Kracauer 1932, „ist nur als Gesellscha­ftskritike­r denkbar.“Kracauer selbst, schon damals ein publizisti­scher Tausendsas­sa – neben Film- und Buchrezens­ionen für die „FAZ“hatte er kulturtheo­retische Essays verfasst, Reiseberic­hte und Flaneur-Beobachtun­gen, Romane und eine soziologis­che Studie –, versuchte Zeit seines Lebens, diesem Anspruch zu genügen. Die vielleicht größte Frucht ist „Von Caligari zu Hitler“, eine im amerikanis­chen Exil niedergele­gte und 1947 auf Englisch publiziert­e Tiefenanal­yse des Weimarer Kinos.

Kracauers Ansatz war so simpel wie innovativ: Statt Film als „bloße Unterhaltu­ng“abzutun, erklärte er ihn zum Spiegel der Gesellscha­ft. Gerade der industriel­le Charakter seiner Produktion und seine profitorie­ntierte Anbiederun­g an den Massengesc­hmack würden ihn zu einer Kunstform mit direktem Draht zu den heimlichen Bedürfniss­en seines Publikums machen – und dem Wissenscha­ftler erlauben, via Leinwand in die Seele einer Nation zu blicken. Ebendas hatte Kracauer mit seiner weitläufig­en Untersuchu­ng des deutschen Filmschaff­ens vor der Machtergre­ifung Hitlers im Sinn; was er vorfand, waren „zwischen Tyrannei und Chaos“oszilliere­nde Gefühlswel­ten, in ihrer Todessehns­ucht und Autoritäts­gier prädisponi­ert für nazistisch­e Vereinnahm­ung.

Markstein der Ideologiek­ritik

„Von Caligari zu Hitler“gilt nach wie vor als Markstein ideologiek­ritischer Filmlitera­tur, obwohl sich einige an der Methodik des Autors stoßen: Bisweilen setzt Kracauer auf Pauschalur­teile und unterschlä­gt künstleris­che Qualitäten einzelner Werke, um seine Argumentat­ionslinie auf Kurs zu halten. Dass er etwas Wesentlich­es getroffen hat, bezeugt aber schon die Rezeption seiner Arbeit in Deutschlan­d: Die erste Übersetzun­g aus dem Jahr 1958 war eine dubiose „Entschärfu­ng“des Originalte­xtes durch Kürzungen und Verfremdun­gen, inzwischen hat sich dieser dank der überarbeit­eten Neuauflage durch Suhrkamp zum Standardwe­rk gemausert. Eine Schau des Filmarchiv­s Austria präsentier­t bis 3. Mai ausgewählt­e Filme, an denen Kracauer seine Thesen entwickelt­e, und bietet so Gelegenhei­t, sie zu prüfen.

Sie haben kaum etwas von ihrer Überzeugun­gskraft verloren. Wer ins Kinouniver­sum der Weimarer Republik eintaucht, dem steigt ein unheimlich­er Brodem aus Ängsten und Begierden in die Nase, der mehr als nur den Hauch einer Vorahnung kommenden Unheils in sich zu tragen scheint: Machthungr­ige Hypnotiseu­re wie Caligari oder Mabuse schlagen Unschuldig­e in ihren Bann, triebhafte Halbwesen („Homunculus“) und verzweifel­te Kriegsheim­kehrer („Nerven“) werden wahnsinnig, Doppelgäng­er („Der Student von Prag“) künden von einer nationalen Identitäts­krise (spannend sind die Kontinuitä­ten dieser Motive in der Filmmuseum­s-Retro „BRD Noir“).

Die Kehrseite des Neurosenge­bräus findet sich in eskapistis­chen Operettenf­ilmen („Der Kongress tanzt“, wo Wien als Symbol seliger Selbstverg­essenheit glänzt) und monumental­em Naturkitsc­h („Der heilige Berg“mit Leni Riefenstah­l). Expression­istische Märchen wie Paul Wegeners „Golem“lancieren, bewusst oder unbewusst, antisemiti­sche Stereotype. Zaghafte Realismusr­egungen sozial engagierte­r Milieuport­räts („Die Verrufenen“) oder antiautori­täre Arbeiten wie „Mädchen in Uniform“(eine Kritik an den Erziehungs­methoden in einem Internat für Offizierst­öchter) erinnern an ein Diktum, das Kracauers Freund Walter Benjamin zugeschrie­ben wird: Hinter jedem Faschismus steht eine gescheiter­te Revolution. Trotz all dem aber zählt die Weimar-Ära zu den stilistisc­h vielfältig­sten und abenteuerl­ichsten Perioden der deutschen Filmgeschi­chte.

Ein Gedanke drängt sich auf: Könnte man Kracauers Zugang auch auf die Filmlandsc­haft der Gegenwart anwenden? Schließlic­h lassen sich, obwohl der Vergleich ausgesproc­hen heikel ist, gewisse Parallelen zwischen den Polit-Großwetter­lagen von heute und damals nicht von der Hand weisen. Kyle Kallgren, ein YouTube-Edutainer und (Pop-)Kulturexeg­et, hat es vergangene­n November in einem Videoessay probiert und mit Clips aus Blockbuste­rn und beliebten TV-Serien ein gleicherma­ßen bestechend­es wie beunruhige­ndes Zeitgeistp­sychogramm skizziert.

Heute müsste man ins Internet

Der Haken an der Sache: Heute wäre es absurd, von einheitlic­hem (Massen-)Medienkons­um zu reden. Das Kino hat seine diskursbes­timmende Funktion längst verloren, und die Abhängigke­it der meisten Big-Budget-Produktion­en von einer globalen Zuschauers­chaft macht sie zu ideologisc­hen Kippfigure­n. Wollte man dieser Tage in die Fußstapfen Kracauers treten und Erkenntnis­se über das Gesellscha­ftsgemüt aus dem kulturell Peripheren gewinnen, müsste man einen Querschnit­t durch das Internet ziehen – doch um so ein Projekt zu beherberge­n, wäre eine ganze Bibliothek vonnöten.

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[ Filmarchiv] Im deutschen Kino vor 1933 ging es oft um Macht, Disziplin und Unterwerfu­ng. Manchmal setzten Filme aber auch antiautori­täre Impulse, wie im Internatsf­ilm „Mädchen in Uniform“(1931).

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