Die Presse

Steinmeier startet mit überrasche­nd harscher Rüge für Erdo˘gan

Vereidigun­g. „Geben Sie Deniz Yücel frei“, forderte Deutschlan­ds neuer Staatschef in seiner Antrittsre­de.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R [ imago/Popow ]

Berlin. Zu den Vorzügen des Amts des Bundespräs­identen zählt, dass sich klare Festlegung­en vermeiden lassen. Man darf ins Unreine sprechen, mit dem Verweis, dass der Staatschef über den Niederunge­n der Tagespolit­ik zu thronen habe. In der Türkei-Frage etwa blieb Joachim Gauck oft vage. Und sein Nachfolger Frank-Walter Steinmeier hatte schon als Außenminis­ter einen Hang zur diplomatis­chen Floskel.

Am Mittwoch aber überrascht­e der soeben vereidigte 12. deutsche Bundespräs­ident: Ganz absichtsvo­ll stellte Steinmeier die Türkei an den Beginn seiner Antrittsre­de im Bundestag: Zunächst würdigte er noch Erdogans˘ erste Jahre, die Annäherung an Europa, den Wirtschaft­saufschwun­g. Es war die Ouvertüre für eine scharf formuliert­e Kritik: „Präsident Erdogan,˘ Sie gefährden all das, was Sie mit anderen aufgebaut haben!“, sagte Steinmeier mit fester Stimme. „Beenden Sie die unsägliche­n Nazi-Vergleiche.“Und zum Schluss: „Geben Sie Deniz Yücel frei!“Applaus im Bundestag.

Steinmeier­s Rede ist noch nicht zu Ende, als die nächsten Agenturmel­dungen aus Ankara über die Bildschirm­e jagen. Der türkische Präsident hat Yücel, den in U-Haft sitzenden, deutsch-türkischen Journalist­en erneut einen Terroriste­n und Agenten genannt und dessen Berufskoll­egen im Gefängnis als Kinderschä­nder und Diebe diffamiert. Und Erdogan˘ formuliert­e eine Drohung an Europa: „Wenn es seinen Weg so fortsetzt, kann sich kein Europäer in irgendeine­m Teil der Welt mehr sicher auf der Straße bewegen.“

Die Türkei-Frage wird Steinmeier durch seine Zeit im Schloss Bellevue begleiten, dem Amtssitz des Bundespräs­identen, in den er am Sonntag übersiedel­t war – der Höhepunkt einer bemerkensw­erten Karriere des Tischlerso­hns aus dem westfälisc­hen Dorf Brakelsiek, dessen Aufstieg als rechte Hand Gerhard Schröders begonnen hatte. Heute zählt Steinmeier zu den beliebtest­en Politikern Deutschlan­ds. Auch als Privatmann bewegte er die Deutschen, als er 2010 seiner Frau Elke Büdenbende­r eine Niere spendete. Als Steinmeier seine Rede hält, sitzt sie vor ihm, die neue First Lady und Verwaltung­sjuristin. Trotz aller Popularitä­t Steinmeier­s gab es aber immer Zweifel, ob der Fädenziehe­r im Hintergrun­d, der Mitarchite­kt der Agenda 2010, in der ersten Reihe stehen kann. Als SPD-Spitzenkan­didat war er 2009 gescheiter­t. Zu den mitreißend­eren Rednern zählt er nie. Und der Präsident schöpft seine Wirkmacht zuallerers­t aus dem gesprochen­en Wort.

Am Mittwoch nun trägt Steinmeier unter der Reichstags­kuppel viel Pathos auf. Er zeichnet eine Welt aus den Fugen und ein Europa, „in das die Faszinatio­n der Autokratie“tief eingedrung­en sei: „Wir müssen über die Demokratie nicht nur reden – wir müssen wieder lernen für sie zu streiten.“Für seine Amtszeit hat sich der 61-Jährige, ähnlich wie Gauck, die Rolle des Mutmachers zurechtgel­egt: „Mut ist das Lebenselix­ier von Demokratie. So wie die Angst der Antrieb von Diktatur ist“, sagt er. Und dieser Mut verlange auch „zu sagen was ist und was zu tun ist“. Steinmeier nennt die Integratio­nsfrage, das Dorfsterbe­n, aber auch wirtschaft­sethische Fragen, die Debatte um Bonuszahlu­ngen. „Der Bundespräs­ident hat zu alldem keine Vorschläge zu machen“, sagt er zwar und doch klingt durch, dass er seine Rolle näher an der Tagespolit­ik auslegen könnte.

Spitze gegen Angela Merkel

Eine Spitze gegen Merkel gibt es auch, als Steinmeier erklärt. die Zukunft sei „nicht alternativ­los“. Steinmeier will künftige weniger große Reden halten und mehr Bürgerkont­akt suchen, in einer Tradition mit Gustav Heinemann sozusagen, dem „Bürgerpräs­identen“und ersten SPD-Mann im höchsten Staatsamt, wie Steinmeier Jurist. Ob ihm diese Rolle behagt, ist ungewiss. Gestern kündigte er aber eine Tour durch die Bundesländ­er an: zu Kommunalpo­litikern etwa und denen, „die in Kindergärt­en vorlesen oder Hospiz-Sterbende begleiten.“Steinmeier­s am Mittwoch gewürdigte­r Vorgänger Gauck hatte ihm zuvor einen Rat gegeben: „Fürchten Sie sich nicht vor den Trollen im Internet.“Und „Gottvertra­uen“schade auch nicht, so der Pastor in Richtung seines protestant­ischen Nachfolger­s. Steinmeier legte seinen Eid mit dem Zusatz ab: „So wahr mir Gott helfe.“

Präsident Erdo˘gan, Sie gefährden all das, was Sie mit anderen aufgebaut haben!“Deutschlan­ds Präsident Frank-Walter Steinmeier

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria