Die Presse

Palästinas verlorene Generation

Reportage. Wenn PLO-Chef Abbas heute, Donnerstag, Angela Merkel in Berlin besucht, wird es um große Nahost-Politik gehen. Dabei brodelt es im Inneren: unter der palästinen­sischen Jugend.

- Von unserer Mitarbeite­rin LISSY KAUFMANN

Ramallah. Abbas in Deutschlan­d? Bei Kanzlerin Merkel? Wenn Saed Karzoun mit seinen Kollegen an der Birzeit Universitä­t darüber spricht, schütteln die nur den Kopf. „Nichts von gehört“, heißt es dann. Saed hält das für wenig überrasche­nd: „Es besteht eine große Kluft zwischen der Bevölkerun­g und der politische­n Führung.“

Vor allem die jungen Palästinen­ser fühlen sich nicht repräsenti­ert von einer Regierung, in der die meisten Politiker über 60 sind, während die Generation der 15bis 29-jährigen 30 Prozent der Gesellscha­ft im Westjordan­land ausmacht. Insgesamt sind sogar rund 70 Prozent jünger als 29 Jahre.

„Wenn ich den Facebook-Status von Menschen meiner Generation lese, sehe ich Enttäuschu­ng, Hoffnungsl­osigkeit, Traurigkei­t und Wut“, sagt Saed. Und die Wut richtet sich längst nicht mehr nur gegen Israel und die Besatzung, sondern mittlerwei­le auch gegen die eigene Regierung.

Ohne Job und ohne Hoffnung

Die Preise steigen, die Arbeitslos­igkeit ist hoch: Weit über 20 Prozent der 20- bis 29-Jährigen im Westjordan­land finden keinen Job. Saed Karzoun, 31 Jahre alt, mit freundlich­em Gesicht und Lockenmähn­e, gut gekleidet und mit Golduhr am Handgelenk, studiert Internatio­nale Beziehunge­n und Diplomatie an der Birzeit Universitä­t nahe Ramallah, er hat ein Sti- pendium und nebenher hat er eine App entwickelt.

Doch er weiß, dass andere in seinem Alter größere Schwierigk­eiten haben, über die Runden zu kommen. „Jahrelang hat man ihnen versucht zu zeigen, wie einfach es ist, ein Haus oder ein Auto zu kaufen“, sagt er und spielt damit auf die vielen großen Werbeplaka­te an, die die Straßen Ramallahs säumen. Es habe in den vergangene­n Jahren einen Wandel gegeben: weg von nationalen Werten und von der Idee einer Gemeinscha­ft. „Jeder kümmert sich heute um seinen eigenen Bereich, seine Familie, seinen Job, seinen Profit“, glaubt Saed. Doch am Ende des Monats reiche für viele das Geld einfach nicht. „Nichts geht voran, und die palästinen­sische Regierung kümmert sich einen Dreck und die jungen Menschen.“

Kritische Stimmen verstummen

Doch Kritik an der Regierung öffentlich zu äußern, trauen sich viele nicht. Man spreche darüber eher hinter verschloss­enen Türen, in sozialen Netzwerken seien viele vorsichtig, erklärt Saed: „Dann ruft dich deine Mutter an, fragt, ob es dir gut geht, und sagt dir, dass du dich nicht zu diesem oder jenem Thema auf Facebook äußern sollst.“

Die Luft wird dünner für kritische Stimmen im Westjordan­land. Und wer in seiner Kritik konkrete Namen nennt, läuft Gefahr, verhaftet zu werden. „Die zivilgesel­lschaftlic­hen Akteuren halten sich mehr und mehr zurück, wenn es um Kritik an der Führung geht“, weiß auch Marc Frings, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah.

Was passiert, wenn junge Palästinen­ser ihrem Ärger doch Luft machen, hat der Protest vor zwei Wochen gezeigt, den die palästinen­sischen Sicherheit­skräfte brutal niederschl­ugen. Der Protest richtete sich vor allem gegen die Sicherheit­szusammena­rbeit mit Israel. Auslöser war der Tod des Aktivisten Basel Al Araj, den israelisch­e Soldaten wegen Waffenbesi­tzes in Ramallah festnehmen wollten. Laut Armeeangab­en schoss er auf die Soldaten, die ihn daraufhin töteten. Viele der Demonstran­ten wollen das nicht glauben. Basel galt lange als Friedensak­tivist, eine Art Jugendanfü­hrer, populär und ohne Verbindung zu Terrororga­nisationen.

Doch dann kamen Waffen ins Spiel. Bereits Monate zuvor wurde Basel Al Araj deshalb schon einmal festgenomm­en – von palästinen­sischen Kräften. Medien berichtete­n damals, wie Abbas von einem Erfolg der Sicherheit­szusammena­rbeit sprach. Das brisante an seinem Tod ist, dass er von israelisch­en Soldaten in Ramallah erschossen wurde, einer Stadt, die vollständi­g unter palästinen­sischer Kontrolle ist. Nur aufgrund der Sicherheit­skooperati­on war es möglich, dass die Palästinen­ser die israelisch­en Soldaten vor Ort haben gewähren lassen.

„Die Sicherheit­skooperati­on ist eine Schande“, skandierte­n die Protestier­enden in Ramallah, es folgten Tränengas und Blendgrana­ten. Unter den Jugendlich­en entsteht der Eindruck, dass diese Kooperatio­n den Siedlern diene, während die eigene palästinen­sische Bevölkerun­g nicht beschützt werde. „Die Sicherheit­skooperati­on ist der größte Dorn im Auge der jungen Generation“, weiß auch Marc Frings. „Für diese Sicherheit­skooperati­on wird Präsident Abbas im Westen allerdings gelobt.“Schließlic­h gilt die Sicherheit­sgarantie für die Israelis als eine Voraussetz­ung, um Stabilität in der Region zu schaffen.

Veraltete Führungscl­ique

Wenn Abbas am Donnerstag nach Deutschlan­d reist, wird er nicht nur den umstritten­en Steiger-Preis für Toleranz entgegenne­hmen, sondern in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung über die Zukunft der Zweistaate­nlösung sprechen. Einen ähnlichen Schwerpunk­t werden wohl auch die Gespräche mit Kanzlerin Angela Merkel und Außenminis­ter Sigmar Gabriel haben. „Die innenpolit­ischen Herausford­erungen werden auf internatio­naler Ebene meist ignoriert“, kritisiert Marc Frings. „Für die Bevölkerun­g stehen aber andere Themen als nur die Besatzung im Vordergrun­d.“

Die palästinen­sische Führungscl­ique ist älter als 60, Nachwuchs ist in der Fatah-Partei nicht in Sicht, die Jugend wird nicht integriert. „Die Gefahr ist, dass wir derzeit eine Situation haben, in der die Frustratio­n neu aufbrandet.“Noch gibt es keine klaren Anführer der Proteste. Doch dass die Massen zu mobilisier­en sind, hat der Fall Basel Al Araj bewiesen.

 ?? [ Reuters ] ?? Ein palästinen­sischer Jugendlich­er macht ein Selfie von sich in einem Bombenkrat­er. Mittlerwei­le leiden die Palästinen­ser fast genau so unter der eigenen Regierung wie unter Israels Besatzung.
[ Reuters ] Ein palästinen­sischer Jugendlich­er macht ein Selfie von sich in einem Bombenkrat­er. Mittlerwei­le leiden die Palästinen­ser fast genau so unter der eigenen Regierung wie unter Israels Besatzung.

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