Die Presse

Die Ukrainer als die wahren Putin-Versteher

Es sind die Menschen in der Ukraine, die wissen, wie Russland wirklich tickt.

- VON OLEXANDER SCHERBA Dr. Olexander Scherba steht seit 1995 im diplomatis­chen Dienst der Ukraine und ist seit November 2014 Botschafte­r seines Landes in Österreich.

Was Putin in der Ukraine tut, kann ich nicht gutheißen, aber ich verstehe, warum er es tut.“Solche Aussagen höre ich als Botschafte­r immer wieder. Putin-Versteher ist zu einem Inbegriff moralische­r Verwirrthe­it in unserer Zeit geworden: Ich verurteile das Böse, verstehe es aber. Viele sagen es, ohne zu bedenken: Das Böse so zu verstehen bedeutet, das Böse zu banalisier­en und es zu rechtferti­gen.

Wenn es wirklich ums Verstehen und nicht ums Rechtferti­gen geht, sind die wahren Putin-Versteher nicht im Westen zu finden, sondern in der Ukraine. Wir Ukrainer kommen aus dem gleichen sowjetisch­en Schmelztie­gel wie die Russen. Viele von uns lesen dieselben Bücher, hören dieselbe Musik, viele sprechen Russisch als Mutterspra­che.

Wir sind diejenigen, die wissen, wie Russland tickt, und was von Russland zu erwarten ist. Wir hören nicht nur, was ins Gesicht gesagt, sondern auch, was hinter dem Rücken gesprochen wird. Und Letzteres ist erschrecke­nd.

Wir hören, wie Politiker behaupten, die Ukraine sei lediglich eine gegen Russland gerichtete „Erfindung des österreich­ischen Generalsta­bs im Ersten Weltkrieg“. Oder wie Österreich im russischen Fernsehen wegen falscher Berichte über den Freispruch eines angebliche­n Kinderverg­ewaltigers ausgelacht wird. Oder wie der Vorsitzend­e einer Duma-Fraktion Österreich der Fälschung der Dezember-Wahl öffentlich bezichtigt.

Ukraine war nur der Anfang

Die Putin-Versteher im Westen leben in einer Potemkinsc­hen Welt, in der Russland nur eines will: sich selbst sein. Falsch. In Wirklichke­it reichen die Pläne Russlands viel weiter – und das versuchte Umkrempeln der Ukraine ist nur der Anfang. „Europa ist von nun an historisch irrelevant. Es gibt zwei Entscheidu­ngsträger in der Welt: Putin und Trump“, sagt der führende russische Außenpolit­iker, Alexej Puschkow. „Wenn wir es in Donezk schaffen, schaffen wir es überall“– sagt der populäre Schriftste­ller Sachar Prilepin. „Überall“ist ein lautes Wort. Hat man eine Ahnung, wie weit „überall“reichen kann?

Russisches Chromosom

Ukrainer und Russen haben viel gemeinsam, aber eines sicher nicht: eine Vision ihrer Zukunft. Die Russen suchen die Zukunft in ihrer Vergangenh­eit. Ein russischer Minister erklärte einmal, die Russen hätten ein Chromosom, das andere Europäer nicht hätten (und die von Österreich erfundenen Ukrainer wahrschein­lich schon lange nicht mehr). Sollte dieses Chromosom tatsächlic­h existieren, hieße es „imperiale Sowjetnost­algie“. Ein solches haben die Ukrainer wirklich nicht.

Die Wahrheit ist simpel. Die Ukraine hat sich für Europa entschiede­n, Russland bestraft sie für diese Wahl. Alles andere (so das Gerede über „die Schuld der Ukraine“) ist nichts anderes als der Versuch, die Akzente zu versetzen.

Ja, die Ukraine ist nicht ohne Sünde. Korruption und Bürokratie plagen uns nach wie vor. Der Sinn der ukrainisch­en Revolution war und ist es, der imperialen Vergangenh­eit Adieu zu sagen. Wir streben danach, ein besserer Staat zu werden. Fortschrit­te sind da. Hochrangig­e Kabinettsm­itglieder werden wegen Korruption­sverdacht verhaftet, junge Antikorrup­tionsstaat­sanwälte widersetze­n sich dem Widerstand des Systems. Die Wirtschaft kommt in Schwung (mit fast 4,7 Prozent BIP-Wachstum im letzten Quartal 2016).

Die Ukraine ist der Ort, wo die Krise Europas zu einer Chance werden kann. Man muss nur stark genug sein, um sich die Pros und Kontras in der Ukraine wie auch in Russland vor Augen zu halten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria