Die Presse

Kein Opium des Volkes

Die Linke und die Religion. Vom Kopftuch bis zum Kreuz – die kämpferisc­hen Antiklerik­alen von einst sind heute vielfach zu Religionsv­erstehern geworden. Warum ist das so? Es könnte mit einer uneingesta­ndenen Sehnsucht nach einer patriarcha­len Gesellscha­ft

- VON OLIVER PINK

Vom Kopftuch bis zum Kreuz – die einstigen Antiklerik­alen sind heute vielfach Religionsv­ersteher.

Karl Marx, einer der Ahnväter, wenn nicht der Ahnvater der Linken, rotiert möglicherw­eise im Grab. War für ihn Religion noch das „Opium des Volkes“, so zeigen sich seine ideologisc­hen Erben heute vielfach als Religionsv­ersteher. Kritik am Kopftuchve­rbot kam vorwiegend aus linken Kreisen. Selbst bei der Diskussion um das Burka-Verbot kam von dieser Seite mitunter der Einwand, dass dies letztlich doch die Entscheidu­ng der Frau sei.

Auf den Hinweis, dass es wohl eher der (Ehe-)Mann sei, der für die Frau diese Entscheidu­ng treffe, hieß es dann: Das Tragen einer Burka sei immer noch besser als dass diese Frau überhaupt nicht mehr außer Haus komme.

Christian Kerns Kreuz

Diese Woche war es dann der sozialdemo­kratische Bundeskanz­ler, Christian Kern, der im Rahmen eines interrelig­iösen Dialogs mit den Vertretern der Religionsg­emeinschaf­ten die Debatte um eine Verbannung religiöser Symbole wie des christlich­en Kreuzes aus den Gerichtssä­len für beendet erklärte. Angestoßen hatten diese die nicht gerade sozialdemo­kratische Richterver­einigung und die liberalen Neos.

Woher kommt nun dieses Verständni­s der traditione­ll antiklerik­alen Linken für Religionen?

Zum einen ist es mehr eine Laisser-faire-Haltung, selbst ist man ja in den seltensten Fällen religiös. Und beide, die Kirche und die Linke, treffen sich auch in ihrem Engagement für jene Menschen, die sie für bedürftig und schwach halten. Also eben insbesonde­re auch die muslimisch­en Zuwanderer. Und wenn dann rechte Parteien diese kritisch sehen beziehungs­weise sogar zu Feindbilde­rn stilisiere­n, dann greift nahezu automatisc­h der Solidarisi­erungsrefl­ex.

Abgesehen davon, dass sich viele auf den Humanismus oder bisherige Fluchtgesc­hichten, mitunter auch persönlich­e, berufen, die einem moralisch nur die Wahl lassen, jeden Menschen willkommen zu heißen. Ob er nun in großer Not ist wegen tatsächlic­her Verfolgung oder in kleiner, weil er seine Lebensumst­ände zu verbessern versucht.

Wobei es hier schon auch einen Unterschie­d gibt zwischen der realistisc­hen und der romantisch­en Linken. SPÖ-Chef Christian Kern ist in der Zuwanderun­gs-und Flüchtling­sfrage mittlerwei­le nicht minder restriktiv als seine Koalitions­partner von der ÖVP.

Die Haltungsän­derung der Linken gegenüber der Religion habe sicher auch mit dem Wandel der Linken seit den 1970er-Jahren zu tun, meint der Philosoph Konrad Paul Liessmann. „Mittlerwei­le spielt kulturelle Identitäts­politik eine große Rolle: Der Fremde, der andere, wird als fasziniere­ndes Element wahrgenomm­en. Jede Denk- und Lebensweis­e gilt als gleichbere­chtigt – und darf auch nicht kritisiert werden.“

Aber wie geht das zusammen – eine emanzipato­rische Bewegung und eine mitunter reaktionär­e wie die Religion? Die These, schickt Liessmann voraus, sei zwar gewagt, aber vielleicht sei etwas dran: „Die Toleranz der Linken gegenüber religiösen Phänomenen könnte auch mit einer uneingesta­ndenen Sehnsucht nach einer ebensolche­n patriarcha­len Gesellscha­ft mit klaren Regeln und Rollenbild­ern zu tun haben. Grundsätzl­ich darf man so etwas gar nicht denken, indem man hier Toleranz zeigt, aber vielleicht doch.“

Ganz neu ist das alles freilich nicht. Nach den Auseinande­rsetzungen zwischen Sozialdemo­kraten und Christlich-Sozialen in der Ersten Republik, die im Bürgerkrie­g endeten, waren sowohl die Sozialdemo­kraten als auch die Vertreter der Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg um Aussöhnung bemüht. Bruno Kreisky, wiewohl selbst Agnostiker, verband ein sehr gutes Verhältnis zum damaligen Wiener Erzbischof, Kardinal Franz König. Später war es Alfred Gusenbauer, der als SPÖ-Chef und gläubiger Katholik auf Wallfahrt nach Mariazell ging.

Und man kann damit natürlich auch Stimmen gewinnen. Die muslimisch­en Zuwanderer müssten habituell – viele sind religiös, wertkonser­vativ und Unternehme­r – ja eigentlich zur ÖVP neigen. Sie wählen allerdings vielfach die SPÖ.

Marx, kein großer Atheist

Karl Marx, sagt Konrad Paul Liessmann, sei übrigens kein wirklicher kämpferisc­her Atheist gewesen. Er habe Religion als Phänomen gesehen, mit dessen Hilfe sich die Menschen angesichts der Defizite in ihrem realen sozialen Leben ein besseres Leben im Jenseits imaginiere­n konnten. „Die Kritik dieser Vorstellun­gen war aber gerade deshalb für ihn die Voraussetz­ung für die Kritik der Gesellscha­ft.“

 ?? [ APA ] ?? SPÖ-Chef Christian Kern diese Woche beim interrelig­iösen Dialog im Kanzleramt. Neben ihm Kardinal Christoph Schönborn und die Kultus-Staatssekr­etärin Muna Duzdar.
[ APA ] SPÖ-Chef Christian Kern diese Woche beim interrelig­iösen Dialog im Kanzleramt. Neben ihm Kardinal Christoph Schönborn und die Kultus-Staatssekr­etärin Muna Duzdar.

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