Kein Opium des Volkes
Die Linke und die Religion. Vom Kopftuch bis zum Kreuz – die kämpferischen Antiklerikalen von einst sind heute vielfach zu Religionsverstehern geworden. Warum ist das so? Es könnte mit einer uneingestandenen Sehnsucht nach einer patriarchalen Gesellschaft
Vom Kopftuch bis zum Kreuz – die einstigen Antiklerikalen sind heute vielfach Religionsversteher.
Karl Marx, einer der Ahnväter, wenn nicht der Ahnvater der Linken, rotiert möglicherweise im Grab. War für ihn Religion noch das „Opium des Volkes“, so zeigen sich seine ideologischen Erben heute vielfach als Religionsversteher. Kritik am Kopftuchverbot kam vorwiegend aus linken Kreisen. Selbst bei der Diskussion um das Burka-Verbot kam von dieser Seite mitunter der Einwand, dass dies letztlich doch die Entscheidung der Frau sei.
Auf den Hinweis, dass es wohl eher der (Ehe-)Mann sei, der für die Frau diese Entscheidung treffe, hieß es dann: Das Tragen einer Burka sei immer noch besser als dass diese Frau überhaupt nicht mehr außer Haus komme.
Christian Kerns Kreuz
Diese Woche war es dann der sozialdemokratische Bundeskanzler, Christian Kern, der im Rahmen eines interreligiösen Dialogs mit den Vertretern der Religionsgemeinschaften die Debatte um eine Verbannung religiöser Symbole wie des christlichen Kreuzes aus den Gerichtssälen für beendet erklärte. Angestoßen hatten diese die nicht gerade sozialdemokratische Richtervereinigung und die liberalen Neos.
Woher kommt nun dieses Verständnis der traditionell antiklerikalen Linken für Religionen?
Zum einen ist es mehr eine Laisser-faire-Haltung, selbst ist man ja in den seltensten Fällen religiös. Und beide, die Kirche und die Linke, treffen sich auch in ihrem Engagement für jene Menschen, die sie für bedürftig und schwach halten. Also eben insbesondere auch die muslimischen Zuwanderer. Und wenn dann rechte Parteien diese kritisch sehen beziehungsweise sogar zu Feindbildern stilisieren, dann greift nahezu automatisch der Solidarisierungsreflex.
Abgesehen davon, dass sich viele auf den Humanismus oder bisherige Fluchtgeschichten, mitunter auch persönliche, berufen, die einem moralisch nur die Wahl lassen, jeden Menschen willkommen zu heißen. Ob er nun in großer Not ist wegen tatsächlicher Verfolgung oder in kleiner, weil er seine Lebensumstände zu verbessern versucht.
Wobei es hier schon auch einen Unterschied gibt zwischen der realistischen und der romantischen Linken. SPÖ-Chef Christian Kern ist in der Zuwanderungs-und Flüchtlingsfrage mittlerweile nicht minder restriktiv als seine Koalitionspartner von der ÖVP.
Die Haltungsänderung der Linken gegenüber der Religion habe sicher auch mit dem Wandel der Linken seit den 1970er-Jahren zu tun, meint der Philosoph Konrad Paul Liessmann. „Mittlerweile spielt kulturelle Identitätspolitik eine große Rolle: Der Fremde, der andere, wird als faszinierendes Element wahrgenommen. Jede Denk- und Lebensweise gilt als gleichberechtigt – und darf auch nicht kritisiert werden.“
Aber wie geht das zusammen – eine emanzipatorische Bewegung und eine mitunter reaktionäre wie die Religion? Die These, schickt Liessmann voraus, sei zwar gewagt, aber vielleicht sei etwas dran: „Die Toleranz der Linken gegenüber religiösen Phänomenen könnte auch mit einer uneingestandenen Sehnsucht nach einer ebensolchen patriarchalen Gesellschaft mit klaren Regeln und Rollenbildern zu tun haben. Grundsätzlich darf man so etwas gar nicht denken, indem man hier Toleranz zeigt, aber vielleicht doch.“
Ganz neu ist das alles freilich nicht. Nach den Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen in der Ersten Republik, die im Bürgerkrieg endeten, waren sowohl die Sozialdemokraten als auch die Vertreter der Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg um Aussöhnung bemüht. Bruno Kreisky, wiewohl selbst Agnostiker, verband ein sehr gutes Verhältnis zum damaligen Wiener Erzbischof, Kardinal Franz König. Später war es Alfred Gusenbauer, der als SPÖ-Chef und gläubiger Katholik auf Wallfahrt nach Mariazell ging.
Und man kann damit natürlich auch Stimmen gewinnen. Die muslimischen Zuwanderer müssten habituell – viele sind religiös, wertkonservativ und Unternehmer – ja eigentlich zur ÖVP neigen. Sie wählen allerdings vielfach die SPÖ.
Marx, kein großer Atheist
Karl Marx, sagt Konrad Paul Liessmann, sei übrigens kein wirklicher kämpferischer Atheist gewesen. Er habe Religion als Phänomen gesehen, mit dessen Hilfe sich die Menschen angesichts der Defizite in ihrem realen sozialen Leben ein besseres Leben im Jenseits imaginieren konnten. „Die Kritik dieser Vorstellungen war aber gerade deshalb für ihn die Voraussetzung für die Kritik der Gesellschaft.“