Die Presse

Der Ungeist des IS wird noch länger spuken

Die Extremiste­n stehen vor der militärisc­hen Niederlage im Irak und in Syrien. Ein Ende der Konflikte und Attentate in Europa bedeutet das aber noch nicht.

- E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

E s ist eine leichte Aufgabe für die Propaganda­einheiten des sogenannte­n Islamische­n Staates (IS). Sie warten einfach, bis ein Attentäter irgendwo in Europa zuschlägt und übernehmen dann die Verantwort­ung für die Bluttat. Ob der Angreifer tatsächlic­h vom IS direkt angeleitet worden ist oder ob er sein Verbrechen unabhängig von den Strukturen der Jihadisten­organisati­on durchgefüh­rt hat, spielt dabei keine Rolle. Die internatio­nale Aufmerksam­keit ist dem IS sicher. Dazu braucht es längst keine großen, logistisch aufwendige­n Attentate mehr wie die alQaidas in den 2000er-Jahren oder des IS in Paris vor eineinhalb Jahren. Es genügt eine Attacke mit vergleichs­weise „einfachen“Waffen: einem Auto und einem Messer wie nun in London.

Angriffe wie diese sind nur schwer bis gar nicht zu verhindern. Denn für sie bedarf es keiner besonderen „auffällige­n“Vorbereitu­ngen, die die Aufmerksam­keit der Polizei erregen könnten. Und die Attentäter benötigen keine einschlägi­gen militärisc­hen Kenntnisse, keine Ausbildung in Terrorcamp­s in Syrien, um ihr brutales Werk zu verrichten.

Die IS-Propaganda­einheiten zählen vor allem auf den psychologi­schen Effekt solcher Anschläge und hoffen, dass ihre Organisati­on damit mächtiger erscheint, als sie eigentlich noch ist. Denn strategisc­h gesehen ergibt sich ein völlig anderes Bild: Das sogenannte Kalifat, das die Extremiste­n im Sommer 2014 im Irak und in Syrien ausgerufen haben, steht vor dem Zusammenbr­uch.

Die IS-Kämpfer leisten zwar in den engen Gassen der Altstadt Mossuls nach wie vor heftigen Widerstand. Sie feuern immer wieder Granaten in die befreiten Teile der nordirakis­chen Metropole ab. Und die Meldung vom Donnerstag, dass mehr als 100 Zivilisten bei einer Detonation gestoben sein sollen, zeigt, wie verlustrei­ch die Rückerober­ung Mossuls noch werden könnte.

Trotzdem ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Jihadisten endgültig aus ihrer einstigen Hochburg vertrieben worden sind – aus der Stadt, in der IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi zum ersten Mal als selbst ernannter „Kalif“zu seinen Anhängern gesprochen hat. Das Ende des IS in Mossul würde auch das vorläufige Ende seiner Vision von einem jihadistis­chen Staat im Nahen Osten bedeuten. Denn dann bleiben ihm nur noch seine ständig schrumpfen­den Territorie­n in Syrien und seine politische „Hauptstadt“im syrischen Raqqa. Und auch dort zieht sich die Schlinge um den IS immer mehr zusammen. Die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten und mit ihnen verbündete arabische Truppen stehen bereits vor Raqqas Toren.

Eine endgültige militärisc­he Niederlage der IS-Kämpfer wird zwar ihr pseudostaa­tliches Horrorgebi­lde im Nahen Osten verschwind­en lassen. Der Ungeist der Extremiste­norganisat­ion wird aber weiterspuk­en – im Irak und in Syrien ebenso wie in Europa.

Das Monster IS erblickte nicht über Nacht das Licht der Welt. Es wuchs langsam im blutigen Biotop des syrischen Bürgerkrie­ges heran und nährte sich von den inneren Zerwürfnis­sen im Irak.

Es bedarf deshalb politische­r Lösungen für den Syrien-Konflikt und die internen Machtkämpf­e im Irak. Andernfall­s werden nach dem Ende des IS nur andere Extremiste­norganisat­ionen ihr Haupt erheben. E in militärisc­hes Ende des IS in Syrien und im Irak wird auch nicht automatisc­h ein Ende der Anschläge in Europa bedeuten. Schon immer fischten die Hetzer extremisti­scher Organisati­onen im Reservoir frustriert­er, vom Weg abgekommen­er, radikalisi­erter Männer, um Attentäter zu rekrutiere­n. In den 2000er-Jahren waren es al-Qaida-nahe Gruppen, und der Brandbesch­leuniger war der Krieg im Irak. Jetzt, gute zehn Jahre später, ist der IS – neben al-Qaida – auf den Plan getreten, um junge Männer für den Kampf in Syrien anzuwerben oder zu Anschlägen in ihren europäisch­en Heimatländ­ern anzustache­ln.

Das Problem Radikalisi­erung ist vor allem ein Problem der europäisch­en Gesellscha­ften, das in Europa gelöst werden muss. Erst dann wird man auch das Problem Terror in den Griff bekommen. Mehr zum Thema: Seiten 2 und 3

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VON WIELAND SCHNEIDER

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