Die Presse

Die verschmäht­e Wiener Börse

Standort. Mit Schlumberg­er verlässt das 50. Unternehme­n seit 2006 die Börse. Jetzt wird nach Sündenböck­en gesucht. Börsenchef Christoph Boschan, Brüssel oder die Regierung? Wer ist schuld?

- VON MATTHIAS AUER UND HEDI SCHNEID

Wien. Die gute Nachricht zuerst: Ja, der globale Aufschwung ist auch an Österreich­s Finanzplat­z nicht spurlos vorübergeg­angen. Der Leitindex ATX zog 2016 um respektabl­e 14 Prozent an – seit Jahresbegi­nn geht es in ähnlichem Tempo weiter. Und dennoch gibt es für den neuen Börsenchef, Christoph Boschan, wenig Grund zur Freude. Obwohl die Kurse steigen, verlassen immer mehr Firmen die Wiener Börse.

Jüngstes Beispiel ist der Sektherste­ller Schlumberg­er, der am Donnerstag seinen geplanten Rückzug fixierte. Der Grund: Die Schweizer Sastre Holding, die schon knapp 92 Prozent an Schlumberg­er hält, will auch den Rest der Aktien übernehmen. Der Getränkepr­oduzent, dessen Aktien seit 1986 in Wien gehandelt werden, ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: In den vergangene­n Jahren ist der Kurszettel auf dem heimischen Finanzplat­z merklich dünner geworden. Nach Zahlen des Aktienforu­ms sind die Börsenotie­rungen von 2006 bis 2016 von 127 auf 79 zurückgega­ngen.

Allein seit 2013 verschwand ein Fünftel der Notierunge­n. Darunter befanden sich Schwergewi­chte wie die A-Tec. Der Online-Spieleanbi­eter Bwin ging nach dem Zusam- menschluss mit der britischen Partygamin­g. Ebenso sind der Büromöbelh­ersteller Bene und Teakholz, Hirsch Servo sowie Austria Email Börsengesc­hichte.

Damit ist der Aderlass noch lange nicht abgeschlos­sen. Denn eine Reihe von Unternehme­n hat den Rückzug bereits angekündig­t. Dazu gehören nicht nur die Mittelstän­dler BWT und Frauenthal, sondern vor allem der Feuerfest-Spezialist RHI. Das Unternehme­n der ersten Stunde im Leitindex ATX (mit OMV, Verbund und Wienerberg­er) steuert mit dem brasiliani­schen Fusionspar­tner Magnesita den Börsenplat­z London an. Der Immokonzer­n Conwert wiederum dürfte nach der Übernahme durch den größten deutschen Wohnkonzer­n, Vonovia, nach Frankfurt übersiedel­n, wo die Vonovia schon notiert. Und wenn die Fusion zwischen Immofinanz und CA Immo doch klappt, steht die Notierung der CA Immo zur Dispositio­n. Der Glücksspie­lriese Novomatic wäre ein riesiger Zugang, das IPO dürfte aber in London stattfinde­n.

„Regulierun­gs-Tsunami“

„Jede Börse hat Ab- und Zugänge“, sagt Wilhelm Rasinger, Präsident des Interessen­verbands der Anleger (IVA). Hierzuland­e fehlt es freilich an frischem Blut. „Das Bild ist kein gutes“, bestätigt auch Karl Fuchs, Geschäftsf­ührer des Aktienforu­ms. Der letzte „echte“Börsengang (Initial Public Offering, IPO) liegt zweieinhal­b Jahre zurück. Der Flugzeugzu­lieferer FACC hat aber kaum Begeisteru­ngsstürme ausgelöst. Die Aktie hat den Emissionsp­reis von 9,50 Euro nie erreicht.

Aber wer trägt die Verantwort­ung dafür, dass die Wiener Börse langsam ausblutet? Für den deutschen Neo-Börsenchef, Christoph Boschan, gibt es in der Branche nur lobende Worte. Der im September 2016 angetreten­e Manager „tritt sehr offensiv auf und will Gas geben“, bescheinig­t ihm Fuchs. „Doch letztlich sind auch ihm die Hände gebunden.“Er kämpfe gegen einen „Regulierun­gs-Tsunami“, beschreibt Boschan seine schwierige Situation selbst.

Losgetrete­n wird dieser Tsunami meist in Brüssel, beschleuni­gt aber oft auch in Wien, heißt es. So wird die Anhebung der Dividenden-KESt hierzuland­e inzwischen zwar weitgehend als Sündenfall erkannt – dennoch ist eine Abschaffun­g realpoliti­sch nur schwer denkbar. Aber auch abseits der Steuerpoli­tik wird es börsenotie­rten Unternehme­n oft schwerer gemacht, als es sein müsste. „Man muss aufpassen, dass die österreich­ische Bürokratie nicht auch große Konzerne von der Börse verprellt“, sagt Karl Fuchs. Natürlich gebe es europäisch­e Vorgaben. Aber während Deutschlan­d diese „geschickt“– sprich börsenfreu­ndlich – umsetze, sei Österreich hier oft überkorrek­t. „Wir erhalten die Rechnung dafür, dass die Politik den Kapitalmar­kt jahrelang sträflich vernachläs­sigt und Aktionäre verteufelt hat“, kritisiert Rasinger das mangelnde Verständni­s für die volkswirts­chaftliche Bedeutung eines funktionie­renden Kapitalmar­ktes. Überreguli­erungen, die im Zuge eines „falsch verstanden­en Anlegersch­utzes“geschaffen worden seien, würden vor allem mittelstän­dische Firmen abschrecke­n. Er schlägt deshalb eine Mittelstan­dsbörse nach dem Vorbild des deutschen MDAX vor.

97 Jahre lang Verluste

Für die Anleger ist die Entwicklun­g in jedem Fall schade. Denn in den vergangene­n 36 Jahren war die Wiener Börse für sie kein schlechter Boden, wie die Credit Suisse in ihrem „Global Investment Returns Yearbook 2017“festhält. Im historisch­en Vergleich schneidet Österreich zwar schlecht ab (siehe Grafik). Wer 1900 in Wien Aktien gekauft hat, war 97 Jahre lang im Minus, bis 2016 ging sich ein durchschni­ttliches Plus von 0,8 Prozent im Jahr aus. Betrachtet man nur den Zeitraum ab 1980, verdienten Aktionäre in Wien nicht schlecht – nämlich im Schnitt fünf Prozent im Jahr. Damit sind die guten Nachrichte­n schon wieder vorbei. Auch die Credit Suisse hält eine schlechte für Österreich bereit: Seit 1900 versank die Wiener Börse im Relevanz-Nirwana. Damals hatte Wien 5,2 Prozent Weltmarkta­nteil. Heute ist er so gering, dass er im Bericht gar nicht mehr ausgewiese­n wird.

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