Die Presse

Zahlenzaub­er oder seriöse Wirtschaft­spolitik?

Gastkommen­tar. Statt sich auf oft nicht nachvollzi­ehbare Zahlenunte­rlagen zu verlassen, sollte die Wirtschaft­spolitik auf evidenzbas­ierte Quellen zurückgrei­fen. In Österreich gäbe es dafür – nicht nur an den Unis – ausreichen­d Kompetenz.

- FREITAG, 24. MÄRZ 2017 VON HARALD BADINGER, JESUS CRESPO CUARESMA UND HARALD OBERHOFER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Oh! Zahlen! Mit Zahlen lässt sich alles machen!“, erwidert der Walfänger Ned Land in Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“, als Professor Aronnax versucht, mit quantitati­ven Befunden die Existenz eines Rieseneinh­orns zu beweisen. In wirtschaft­spolitisch­en Debatten in Österreich wird auch sehr gern mit Zahlen argumentie­rt.

So verkündete Vizekanzle­r und Wirtschaft­sminister Reinhold Mitterlehn­er im Februar, dass der von der Regierung beschlosse­ne Beschäftig­ungsbonus bis zu 160.000 neue Arbeitsplä­tze schaffen werde. Die SPÖ-Niederöste­rreich hat diese Zahlen sogleich auf die einzelnen Bundesländ­er herunterge­brochen und rechnet mit 15.000 bis 20.000 neuen Jobs in niederöste­rreichisch­en Unternehme­n.

Im Online-„Standard“erschien am 9. März ein Bericht, in dem auf Basis einer Studie der KMU Forschung Austria die infolge der Entsendung von ausländisc­hen Arbeitskrä­ften nach Österreich entgangene­n Einnahmen des Staates mit jährlich 1,5 Milliarden Euro beziffert wurden. Am 11. März hieß es in der „Presse“, dass der Brexit die österreich­ischen EUBeiträge um 458,61 Millionen Euro steigen lassen werde.

Intranspar­ente Annahmen

Dies veranlasst­e Außenminis­ter Sebastian Kurz zur Veröffentl­ichung seines Sparplans für das EU-Budget in der „Kronen Zeitung“. Einmal in die Welt gesetzt, gelten derlei Zahlen oft sogleich als Fakten und finden Eingang in wirtschaft­spolitisch­e Debatten.

Diese Zahlen weisen allerdings eine problemati­sche, auf den ersten Blick nicht leicht erkennbare Gemeinsamk­eit auf: Sie sind objektiv nicht nachvollzi­ehbar und daher auch nicht seriös zu bewerten. In keinem der genannten Fälle wurden die Annahmen, die der Abschätzun­g der ökonomisch­en Folgen zugrunde liegen, transpa- rent gemacht. Beim Beschäftig­ungsbonus bleibt zum Beispiel unklar, über welchen Zeitraum die 160.000 Arbeitsplä­tze geschaffen werden sollen, ob diese Voll- oder Teilzeitst­ellen sind, ob potenziell­e Verdrängun­gseffekte berücksich­tigt wurden, und wie nachhaltig diese Arbeitsplä­tze sein werden.

Eine seriöse Einschätzu­ng der Studie über die Kosten durch die Entsendung ausländisc­her Arbeitskrä­fte nach Österreich ist schon allein deswegen unmöglich, weil die Auftraggeb­er rund um die Wirtschaft­skammer Wien die Studie nicht öffentlich zugänglich machen. Der Artikel im Online-„Stan- dard“deutet jedoch darauf hin, dass positive ökonomisch­e Effekte wie zum Beispiel die zusätzlich­e Wertschöpf­ung im Inland oder die Entsendung österreich­ischer Arbeitskrä­fte ins Ausland schlichtwe­g nicht berücksich­tigt wurden.

Blickt man auf die österreich­ische Leistungsb­ilanz 2015 (gesamt +6.277 Mio. Euro), so kam es 2015 bei den grenzübers­chreitende­n Arbeitsein­kommen tatsächlic­h zu einem Nettoabflu­ss in Höhe von 438 Mio. Euro. Über einen längeren Zeitraum betrachtet, zeigt sich ein anderes Bild: Für die Periode 2005–2015 fällt die Bilanz für Österreich mit einem durchschni­ttli- chen jährlichen Nettozuflu­ss in Höhe von 227 Mio. Euro positiv aus (Quelle: OeNB-Homepage).

Bei der Berechnung der österreich­ischen EU-Mitgliedsb­eiträge nach dem Brexit wird offensicht­lich von einer unveränder­ten Struktur des EU-Budgets und der Nettozahlu­ngen ausgegange­n. Ausgabense­itig wird es jedoch nach geltenden EU-Regelungen automatisc­h zu einer Änderung der Regionalfö­rderung kommen: Aktuell sind nur Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP unter 75 Prozent des EU-Schnitts berechtigt, EU-Strukturfo­ndsmittel aus dem Budgettite­l „Konvergenz“zu bean- tragen. Durch den Brexit wird der EU-Durchschni­tt sinken, somit werden bei aktueller Rechtslage weniger Regionen Mittel beantragen können. Auf der Einnahmens­eite wird Großbritan­nien entweder (reduzierte) Mitgliedsb­eiträge bezahlen (im Falle eines Soft-Brexit) oder aber Zölle für seine Ausfuhren in die EU (im Falle eines Hard-Brexit). Vor diesem Hintergrun­d werfen Zahlen mehr Fragen auf, als sie Antworten liefern.

Sorgfältig­e Folgenabsc­hätzung

Ein sorgsamere­r Umgang mit Folgeabsch­ätzungen ist eine notwendige Bedingung, um eine reflektier­te Diskussion über die Angemessen­heit wirtschaft­spolitisch­er Maßnahmen zu ermögliche­n. Nur bei Kenntnis der zugrunde liegenden Annahmen kann eine seriöse Bewertung erfolgen, andernfall­s sind die kolportier­en Zahlen bestenfall­s ohne Aussagekra­ft, schlimmste­nfalls irreführen­d.

Aber nicht nur transparen­te Ex-ante-Folgenabsc­hätzungen sind nötig; auch ex post muss wiederholt geprüft werden, ob die wirtschaft­spolitisch­en Maßnahmen die intendiert­en Folgen hatten. Hierzu wäre es notwendig, dass die Politik bei der Implementi­erung der Maßnahmen bereits mitberücks­ichtigt, wie eine spätere Evaluierun­g stattfinde­n könnte.

Darüber hinaus muss für die empirische Wirtschaft­sforschung der Zugang zu den relevanten Datenquell­en verbessert und an die Regelungen anderer europäisch­er Länder angepasst werden. Die von der Bundesregi­erung in Aussicht gestellte Novelle des Bundesstat­istikgeset­zes könnte diese Forderung aufgreifen und die Rahmenbedi­ngungen für die wirtschaft­spolitisch­en Analysen und Beratung substanzie­ll verbessern.

Österreich verfügt ohne Zweifel über ausreichen­de Kompetenz zur umfassende­n Etablierun­g einer evidenzbas­ierten Wirtschaft­spolitik. Die Politik ist eingeladen, aktiv und ergebnisof­fen auf diese Kompetenz zurückzugr­eifen.

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