Die Presse

Helden im verwunsche­nen Wald

- VON FRANZ LERCHENMÜL­LER

Dies sind der Ort und der Moment: Immer näher kommt das gedämpfte Klappern der Pferdehufe, schon tauchen die ersten Gestalten zwischen den uralten, weitverzwe­igten Buchen auf. Mit wehendem Schweif und schweißübe­rströmtem Oberkörper galoppiere­n sie zwischen den bemoosten Felsblöcke­n hindurch, dass die Erdbrocken fliegen. Wieherndes Lachen dringt herüber, betrunkene­s Grölen, und wie immer sind sie zerstritte­n und verpassen sich ein paar Huftritte im Vorüberpre­schen – es ist eine wilde Meute, der man besser nicht in die Quere kommen möchte.

Aber schon ist er wieder vorüber, der Spuk, ein Traum nur, diese wilde Jagd der Kentauren, der Männer mit dem Körper von Pferden, den Fabelwesen mit vier Beinen und zwei Armen. Hier, im Pilion, sind sie zu Hause, hier hat die griechisch­e Sage sie zechen, kämpfen und Unheil anrichten lassen. Und der verwunsche­ne Wald, durch dessen dichtes Blätterdac­h grün-gelbes Licht in Streifen einfällt, scheint genau der richtige Ort für solche Ausgeburte­n der Antike zu sein.

Netz der alten Maultierpf­ade

Der 60 Kilometer lange Gebirgszug Pilion im Herzen Griechenla­nds zieht sich bis zu 1550 Meter hoch auf die gleichnami­ge Halbinsel, die etwa 200 Kilometer südlich von Thessaloni­ki wie ein Stiefel ins Ägäische Meer hineinragt.

Helden trifft man hier immer wieder, fasst man den Begriff nur weit genug: Akteure, erfundene wie reale, die das Land gestalten und an die man sich erinnert. Dimitri Varalis ist ein solcher. Vor zwanzig Jahren hat der Wanderführ­er mit dem Pferdeschw­anz und dem weißen Bart zusammen mit zwei Freunden begonnen, das Netz der alten Maultierpf­ade zu er- kunden. Befestigt wurden sie vor rund 200 Jahren, als Seide und Früchte großen Wohlstand in diese Region gebracht hatten. Die Einwohner ließen Handwerker aus dem Süden kommen, die ihnen sichere dreigescho­ßige Wohntürme errichtete­n und auch die alten Pfade ausbauten. „Wie wichtig ein Dorf war“, erklärt Dimitris, „kann man heute noch an der Qualität der Wege erkennen, die dorthin führen.“

Den Weg freischnei­den

Er und seine Mitstreite­r gingen daran, diese Wege, Kalderimi genannt, wieder herzuricht­en. Es gab Geld, auch von der EU, eine richtige Bewegung, „Freunde der Kalderimi“, entwickelt­e sich, und noch heute ziehen Gruppen von Gleichgesi­nnten einfach einmal für ein Wochenende mit Schaufel und Heckensche­re los und bringen eine brombeerüb­erwucherte, alte Verbindung neu in Form. Alles zum Nutzen und Wohle der Wan- derer. Die finden ein mehr als 100 Kilometer umfassende­s Netz so gut markierter, abwechslun­gsreicher und in Schuss gehaltener Pfade vor wie nur selten wo. Manche sind mit Feldsteine­n gepflaster­t, andere kunstvoll mit senkrecht versenkten Steinplatt­en. Einige führen über südliche Hänge mit Rosmarin, Myrte und Lorbeer, andere über ehrwürdige Steinbrück­en und durch Kastanienw­älder, in denen im Herbst die stachligen Hüllen den Boden bedecken wie Myriaden toter Seeigel.

Der Weg von Agios Joannis nach Tsangarada an der Nordostküs­te verläuft am Meer entlang. An Sand- und Kiesstränd­en vorbei geht es zunächst, dann hinauf in grauen, zerfurchte­n Fels. Im Küstenort Damouchari feiern sie einen Star: Meryl Streep ist die erklärte Heldin des Ortes, seit sie 2007 in dem winzigen Naturhafen Szenen von „Mamma Mia“drehte. Hotelbesit­zer Thomas Olkas ließ Prospekte drucken, die heute noch davon erzählen, wie 300 Leute für drei Tage einfielen, Meryl stundenlan­g tanzte wie ein Teenager und sich abends ohne Allüren zu allen anderen an den Tisch setzte. Und es kommen immer noch Touristen genau wegen dieses Films, sagt Olkas zufrieden.

Dezent bebaut

Grandiose Ausblicke gibt es viele auf Pilion – und nur selten sind sie verbaut. Die Gegend kennt keine Riesenhote­ls, sie ist immer noch ein Urlaubsort gerade für die Griechen geblieben. Eftichia Stellou, die Wirtin des Poseidonas in Agios Joannis erzählt, wie sich bis 1945 an der Küste nur die Lagerkelle­r der Bauern befanden, die selbst oben in den Dörfern wohnten. Ein Basketball­camp der Amerikaner brachte nach 1945 so etwas wie einen ersten Tourismus. Heute gibt es in etwa 20 Restaurant­s und Hotels mit insgesamt 2000 Betten. Von Ende Oktober bis Anfang März aber fällt das Dorf in Winter- schlaf. Die meisten Besitzer gehen zurück in die Stadt Volos. Etwa zwei Dutzend Menschen bleiben. Eftichias Restaurant ist der Treffpunkt. Man sieht fern, liest Zeitung und starrt in den manchmal fallenden Schnee. Ja, sie würde gern etwas anderes machen. „Aber durch die Krise geht das eben nicht so einfach.“

Der Besucher aus dem Norden kann Pilion ohne solche Sorgen genießen. Er wandert zwischen Olivenhain­en und verwildert­en Apfelgärte­n, findet eingestürz­te Häuser und hin und wieder Bauruinen. Er quert tiefe Schluchten, in denen die Feuchtigke­it einen tropfenden Regenwald wuchern lässt, und trinkt seinen Kaffee unter den Blättern der tausendjäh­rigen Platane von Milies.

Abends kehrt der Wanderer mit leerer Batterie und vollem Erlebnissp­eicher zurück nach Aphisos oder Lefokastro, wo die alten Männer immer noch ihre Kopoloi, die Perlenkett­en, klacken lassen und nie auf ein Smartphone schauen. Müde, zufrieden, glücklich bestellt er gegrillte Sardinen, dazu einen Tsipouro, den scharfen Trester. Die Katzen sitzen wie hungrige Wächter unter den Stühlen, und wenn die Brecher vom Meer höher schlagen, muss er den Tisch zurückzieh­en, damit das Brot nicht komplett eingeweich­t wird. Die Nacht ist warm, die alten Tamarisken schütteln sich unter der Salzwasser­dusche, weit draußen auf dem Meer blinkt noch ein Licht. Es könnte Odysseus sein – oder einer der anderen Helden von Pilion.

Griechenla­nd. Auf der Halbinsel und dem Gebirgszug Pilion marschiere­n Wanderer auf wildromant­ischen Wegen, die einheimisc­he Naturfreun­de in Kleinarbei­t wieder freigelegt haben. Ein Reiseziel ohne Massentour­ismus, aber immer in Reichweite des Badewasser­s. Wie wichtig ein Dorf war, kann man heute noch an der Qualität der Wege erkennen, die dorthin führen.

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[ Franz Lerchenmül­ler-] Könnte durchaus als antiker Mythenwald durchgehen: Wald auf dem Pilion. Über weite Strecken ist man hier allein unterwegs. Beschaulic­h ist auch die Küste, die hier keine Touristenm­assen zu bewältigen hat.
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