„Parsifal“: Europas letztes Abendmahl?
Zum Gründonnerstag. Was kann die christliche Eucharistiefeier heute bedeuten? Was heißt „Erlösung dem Erlöser“? Wenn eine Inszenierung von Wagners „Bühnenweihfestspiel“uns darüber nachdenken lässt, hat sie ihren Sinn.
Am heutigen Gründonnerstag und am Ostersonntag stehen Reprisen der neuen „Parsifal“-Inszenierung auf dem Staatsopern-Programm. Der Livestream der heutigen Aufführung ist auch am spielfreien Karfreitag abrufbar. Dass über die Neuproduktion intensiv diskutiert wurde, liegt sozusagen in der Natur der Sache. Die „Parsifal“-Krise beginnt ja bereits mit dem an dieser Stelle jüngst verhandelten Treuebruch der Wagner-Gemeinde. Deren Herr und Meister wollte sein „Bühnenweihfestspiel“einem nur diesem Zweck geweihten Tempel zur Aufführung vorbehalten.
Das Bayreuther Festspielhaus blieb denn auch 30 Jahre lang – bis zum Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist – die Heimstätte des Werks. Mit einer Ausnahme: Die New Yorker Metropolitan Opera gab „Parsifal“1903. Ironischerweise am Weihnachtsabend, obwohl der dritte Aufzug ja am Karfreitag spielt – womit die „Frevler“in New York einen kühnen Bogen von der Geburtszur Todesstunde Christi gespannt hätten. Als wollten sie eines der vielen großen inhaltlichen Rätsel von Wagners Schöpfung symbolisch nutzen: „Zum Raum wird hier die Zeit“, sagt Ritter Gurnemanz zum „reinen Toren“Parsifal, der nicht versteht, was rund um ihn vorgeht.
Den Verwandlungen auf der Spur
Diese viel zitierte beziehungsvolle Sentenz, um Anekdotisches nicht außer Acht zu lassen, paraphrasierte – unabsichtlich – auch jener Besucher der ersten amerikanischen Vorstellung, der mit Bezug auf die Länge des Dramas die „Met“nach fünfeinhalb Stunden mit den Worten verlassen haben soll: „Ist Roosevelt noch Präsident?“
Die Frage ist ja eher zu stellen, was während der etwas mehr als vier Stunden Musik und der dazugehörigen Handlung in diesem „Zeit-Raum“mit dem Publikum geschieht. Inwiefern es bereit ist, den Verwandlungen nachzuspüren, die in den handelnden Personen auf der Bühne vor sich gehen; innerlich und – so die Regie erlaubt – auch äußerlich sichtbar.
Das Problem jeder neuen „Parsifal“-Inszenierung sind die Prozesse, von denen hier die Rede ist, in ihrer Symbolkraft und tieferen Bedeutung auf dem Theater erfahrbar zu machen – oder besser: Kann Opernregie die Fra- gen, die dieses Stück an uns stellt, dringlich sichtbar machen? In diesem Sinn sind – anders als etwa im Falle von kolportageartigen Werken vom Schlage einer „Traviata“, einer „Tosca“– jene Produktionen die besten, die für heftige Diskussionen darüber sorgen, was Wagner gemeint haben könnte. Stirbt Violetta nicht an Schwindsucht, stürzt sich Tosca nicht von der Engelsburg, sind die jeweiligen Inszenierungen einfach falsch. Verhandeln wir nach „Parsifal“über die Sinnhaftigkeit eines Reliquienkults in unserer Zeit, fragen wir gar nach der aktuellen Bedeutung einer Eucharistiefeier, dann sind wir immerhin auf den Spuren jener Gedankenwelt, die Wagner
einst dazu führte, seinen „Parsifal“zum „Weihespiel“, zum besonderen – jedenfalls aus einem Theater-Repertoirebetrieb herauszuhebenden – Ereignis zu erklären.
Abendland und Eucharistie
Sobald der zentrale Moment der christlichen Messfeier zum Bühnenspektakel wird, muss der Bühnenraum tatsächlich zur Zeitachse werden, an der die gewaltige Integrationskraft zu ermessen wäre, die diese Liturgie für die Geschichte des Abendlandes bedeutet hat. Das hätte vielleicht gerade für eine Generation Bedeutung, deren Väter die vollkommene Säkularisierung als letztes Ziel, als Erfüllung der abendländischen Kultur gepredigt hatten. Diese Generation erlebt soeben, wie leicht das zivilisatorische Moment der vollkommenen Rationalisierung des Lebens, die sich doch dauerhafter als Erz erweisen hätte sollen, von einem (vorgeblich?) religiösem Fanatismus zumindest unterminiert, wo nicht gänzlich zu Fall gebracht zu werden droht.
Die kardinalen Augenblicke in Wagners „Parsifal“sind wohl jene, in denen Ur-Erfahrungen (auch, aber nicht nur solche religiöser Natur) wie ein Blitzschlag für Sekundenbruchteil Blicke in seelische Tiefenregionen gewähren. Der „Blick“des Heilands, der Kundry trifft, nachdem sie sein Leiden verlacht hat – eines der stärksten, wenn nicht das stärkste Sinnbild menschlicher Schuld, derer die europäische Kunst fähig war. „Von Welt zu Welt“irrt die dieserart „erbschuldig“Gewordene, „ihm wieder zu begegnen“.
Der „Kuss“auch, der Parsifal „welthellsichtig“macht – und die Umarmung, die er Kundry danach nicht gewähren will, weil er im Moment der „Welthellsichtigkeit“erkennt, dass eben in dem Versprechen, in der „Umarmung Gottheit zu erlangen“, das existenzielle Missverständnis liegt.
Das Mitleid, das Wagner als das zentrale Gebot bezeichnet hat, gilt ja in diesem Augenblick nicht den Leiden des Gralskönigs, die Parsifal ratlos im ersten Aufzug miterlebt. Wolfram von Eschenbachs Parzival hat angesichts des leidenden Gralskönig Amfortas nicht „gefragetˆ sˆıner not“.ˆ
Wagners Parsifal erkennt nun aber den wahren Kern dieser ,,Not“: Es geht nicht um Amfortas, den Leidenden, sondern um Amfortas, der schuldig wurde und Leid bringt! Es ist der Gral, das Blut Christi in der Abendmahlsschale, das aus „schuldbefleckten Händen“befreit werden muss.
Parsifal als Religionsgründer?
„Erlösung dem Erlöser“, die Schlusssentenz des Weihefestspiels, erklärt sich nur aus diesem Moment: Parsifal muss als neuer Gralskönig zum Begründer einer neuen Religion werden, die auf Basis der Tradition neue Spiritualität zu spenden imstande ist. Das könnte selbst Verfechtern einer vollständigen Säkularisierung angesichts der kulturellen Herausforderungen unseres Äons wie ein Menetekel erscheinen.