Die Presse

Er soll die ganze Macht erhalten

Wie würde die Türkei unter dem System einer Präsidialr­epublik aussehen?

- Von unserer Mitarbeite­rin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Es ist eine historisch­e Weichenste­llung für den künftigen Weg der Türkei. Rund 58 Millionen türkische Wähler entscheide­n am Sonntag über den weitreiche­ndsten Umbau des Staates seit Jahrzehnte­n. Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ wirbt für die Einführung eines Präsidials­ystems, das ihm selbst auf Jahre hinaus große Machtbefug­nisse einräumen würde. Seine Gegner warnen vor einem Ein-Mann-System, dem Ende der Republik Atatürks und einem unaufhalts­amen Marsch in die Diktatur, sollten die Türken tatsächlic­h Ja zu Erdogans˘ Plänen sagen.

Laut Erdogan˘ und seiner Regierungs­partei, AKP, grenzt es an ein Wunder, dass in der Türkei derzeit überhaupt etwas funktionie­rt: Nur im heftigen Kampf gegen das bestehende System habe seine Regierung in den vergangene­n anderthalb Jahrzehnte­n ihre Vorstellun­gen durchsetze­n und der Türkei neuen Wohlstand und neues Ansehen bescheren können, behauptet der Präsident bei seinen Wahlkampfk­undgebunge­n vor dem Referendum. Die Einführung der Direktwahl des früher vom Parlament bestimmten Präsidente­n 2007 habe zur Zersplitte­rung der Befugnisse an der Spitze des Staates geführt, so die AKP. Es gebe eine Konkurrenz zwischen dem Staatsober­haupt und dem Ministerpr­äsidenten, der dem Kabinett vorsteht: Beide hätten starke demokratis­che Mandate. Dies führe zu einer „Doppelköpf­igkeit“und damit zu vielen Reibungsve­rlusten.

Die Lösung, sagt Erdogan,˘ bestehe im Präsidials­ystem. Das Amt des Ministerpr­äsidenten wird abgeschaff­t, die wichtigste­n Befugnisse werden im Amt des Staatsober­haupts vereinigt. Anders als bisher soll der Präsident künftig auch Mitglied und sogar Vorsitzend­er einer politische­n Partei sein dürfen – die bisher gebotene Überpartei­lichkeit des Staatschef­s entfällt. Der Präsident wird im neuen System für höchstens zwei jeweils fünfjährig­e Amtsperiod­en gewählt. Da Erdogans˘ derzeitige Amtszeit noch bis zum Jahr 2019 reicht, könnte der heute 63-Jährige also bis zum Jahr 2029 regieren.

Vergleiche mit anderen Ländern hinken

Staatliche Entscheidu­ngsprozess­e würden im neuen System verschlank­t, das Regieren werde effiziente­r, was letztlich allen Bürgern zugutekomm­e, verspricht Erdogan.˘ Im Übrigen gebe es auch in westlichen Staaten wie in den USA oder in Frankreich starke Präsidials­ysteme, ohne dass sich dort jemand Sorgen über den Zustand der Demokratie mache, lautet ein anderer Hinweis der AKP.

Allerdings zeigt ein Vergleich des Erdogan-˘Plans mit den Systemen in Washington und Paris eine Tendenz, bestimmte Teile aus diesen Konstrukti­onen zu übernehmen, die für die Machtkontr­olle wichtigen Mechanisme­n aber zu ignorieren. So ist der Präsident in Frankreich zwar ähnlich mächtig wie der türkische Staatschef im neuen System, doch er muss sich die Regierungs­gewalt mit dem Ministerpr­äsidenten teilen. Das kann hin und wieder zu schwierige­n

Perioden der Cohabitati­on – des Zusammenle­bens – führen, wenn Präsident und Regierungs­chef zwei verschiede­nen Parteien angehören. In der Türkei soll es das nicht geben. Der Präsident ist auch Chef der Regierung und sucht sich seine Minister allein und ohne Parlament aus; den Premier gibt es nicht mehr. Die Opposition spricht deshalb von einem Ein-Mann-System.

Beim Blick auf die USA fällt im türkischen Plan das Fehlen anderer starker Gegengewic­hte auf. Der US-Präsident muss sich nicht nur mit den erhebliche­n Rechten der Bundesstaa­ten herumschla­gen, die es in der zentralist­isch organisier­ten Türkei nicht gibt. Er muss auch mit den Mitsprache­rechten des Kongresses zurechtkom­men, etwa bei der Ernennung von Ministern oder Bundesrich­tern. In den USA liegt das Haushaltsr­echt beim Parlament. In der Türkei soll das Budget künftig vom Präsidente­n ausgearbei­tet werden, nicht mehr von den Volksvertr­etern.

Die AKP unterstrei­cht, im neuen System habe das Parlament mehr Befugnisse bei der Besetzung des Richterkon­trollgremi­ums HSK. Zudem werde die Zahl der Parlaments­abgeordnet­en von 550 auf 600 erhöht und die Legislatur­periode der Volksvertr­etung von vier auf fünf Jahre verlängert, um Präsidente­n- und Parlaments­wahlen künftig gleichzeit­ig abhalten zu können. Das Mindestalt­er für das passive Wahlrecht wird von 25 auf 18 Jahre gesenkt.

Ob all das das Parlament stärkt, wird von Kritikern bezweifelt. Für den US-Präsidente­n etwa kann die Macht des Parlaments bei der Kontrolle über die Exekutive unangenehm werden. Derzeit untersucht der Kongress beispielsw­eise angebliche Verbindung­en zwischen dem Wahlkampft­eam Donald Trumps und Russland. Unter Erdogans˘ System büßt das Parlament wichtige Befugnisse ein. Untersuchu­ngen wie die derzeitige­n Parlaments­ermittlung­en in den USA würde es in der Türkei nicht geben.

Auflösung des Parlaments

Befürworte­r des Erdogan-˘Plans betonen jedoch, das Parlament könne nach wie vor mit den entspreche­nden Mehrheiten eine Amtsentheb­ung des Präsidente­n anstreben. Umstritten ist auch das Recht des Präsidente­n zur Auflösung des Parlaments. Kritiker sehen hier eine unzulässig­e Machterwei­terung. Die AKP verweist dagegen darauf, dass der Präsident bei einer Auflösung des Parlaments und Ausrufung einer Neuwahl auch das vorzeitige Ende seiner eigenen Amtszeit einleiten würde, weil Parlament und Präsident gleichzeit­ig gewählt werden müssen.

 ??  ??
 ?? [ Reuters ] ?? Finale im Wahlkampf. Mit gewaltigen Plakaten wirbt der türkische Staatschef Erdogan˘ in Istanbul für ein Ja zu dem von ihm geplanten Präsidials­ystem. Es würde seine Machtfülle erweitern.
[ Reuters ] Finale im Wahlkampf. Mit gewaltigen Plakaten wirbt der türkische Staatschef Erdogan˘ in Istanbul für ein Ja zu dem von ihm geplanten Präsidials­ystem. Es würde seine Machtfülle erweitern.

Newspapers in German

Newspapers from Austria