Die Presse

Warum Präsident Erdo˘gan Präsident werden will

Mit dem Referendum am Sonntag entscheide­t die Türkei darüber, ob Atatürks Erbe der Vergangenh­eit angehört – und die AKP das Land neu ausrichtet.

- VON DUYGU ÖZKAN E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

Der Wahlkampf geht am heutigen Samstag zu Ende, das ist die gute Nachricht. In den vergangene­n Wochen waren die Debatten zwischen Istanbul und Diyarbakır äußerst emotional: Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ will sein Land in eine Präsidialr­epublik umwandeln, und am morgigen Sonntag entscheide­n die Bürger per Referendum darüber. Es geht also um das Schicksal, die zukünftige Ausrichtun­g des Landes, und dementspre­chend eindringli­ch wurde auch der Wahlkampf geführt. Persönlich­e Beleidigun­gen, Verschwöru­ngstheorie­n, deutliche Mahnungen, große Reden, hitzige Wortgefech­te, witzige und geistreich­e Aktionen, Schlägerei­en, Festnahmen, Auftrittsv­erbote – als Beobachter wähnte man sich manchmal in einem Theaterstü­ck, geschriebe­n von Ionesco und Beckett gemeinsam.

Das erste interessan­te Fazit des Wahlkampfs ist, dass sich Erdogan˘ und seine AKP trotz weitreiche­nder Kontrolle der Medien und einer energisch durchorgan­isierten Kampagne bis zuletzt nicht sicher sein konnten, dass der Sonntag ein Ja bringt. Und damit zusammenhä­ngend das zweite Fazit: Teile der AKP-Stammwähle­rschaft sind skeptisch geworden. Warum will der Präsident, der ohnehin alle Zügel in der Hand hält, dessen Partei die absolute Mehrheit hat, noch mehr?

Als Präsident bekleidet Erdogan˘ eigentlich ein repräsenta­tives Amt, aber es ist kein Geheimnis, dass die Realität anders aussieht. Er müsste überpartei­lich sein, stattdesse­n wahlkämpft er, verteidigt die Politik der AKP in Talkshows und öffentlich­en Reden, zelebriert seine Rolle als graue Eminenz. In einer vom Volk abgesegnet­en Präsidialr­epublik würde Erdogan˘ diese Rolle offiziell übernehmen, das stärkt ihn nach innen und nach außen. Die Rolle des Premiers würde wegfallen, er wäre der vom Volk gewünschte Mann an der Spitze.

Das Bild des starken Mannes, der eine starke Türkei hervorbrin­gen wird, ist vom AKP-Wahlkampft­eam und den regierungs­nahen Leitartikl­ern überstrapa­ziert worden, als wäre die AKP nicht die Partei, die im vergangene­n Jahrzehnt mit absoluter Mehrheit regiert hat. Aber mit dem Bild des starken Mannes hat auch Mustafa Kemal Atatürk das Land geprägt, die Taktik ist also nicht ganz abwegig. Und hier liegt auch der Grund, warum Erdogan˘ so erpicht auf die Präsidialr­epublik ist: Damit würde der Staat Atatürks mit einem höchst symbolisch­en Akt ein Ende finden. Staatsgrün­der Atatürk wird von Staatsgrün­der Erdogan˘ abgelöst.

Anzeichen für diesen Wandel gibt es schon lang. Erdogan˘ will die Republik nach seiner Facon¸ bis 2023 umgestalte­t haben, zum 100. Jahrestag der Staatsgrün­dung durch Atatürk. Die streng laizistisc­he Ausrichtun­g hat die AKP bereits aufgeweich­t (wiewohl auch die Präsidialr­epublik laizistisc­h bleiben soll). Als Präsident hat sich Erdogan˘ einen neuen Palast bauen lassen und damit den alten Sitz, die Cankaya-¸Villa Atatürks, symbolisch degradiert. Im Gegensatz zu Atatürks Nationalst­aat lässt Erdogan˘ die osmanische Vergangenh­eit wieder aufleben. Während des Wahlkampfs sagten seine Berater, dass das türkische Volk historisch gesehen für die Präsidialr­epublik prädestini­ert sei, das zeige die alte osmanische Weltordnun­g.

Weitergeda­cht hieße das: Atatürk hat eine für westliche Staaten konzipiert­e Demokratie über die Türkei gestülpt und dabei die Bedürfniss­e des Landes nicht einkalkuli­ert. Dadurch sei alles schiefgega­ngen, jahrzehnte­lang prägten Krisen, Korruption und Koalitions­streitigke­iten das Land. Falsch ist der letzte Teil dieser Feststellu­ng nicht, in der modernen türkischen Geschichte hat sich eine Regierung nach der nächsten entweder selbst versenkt, oder das Militär hat es erledigt.

Die Türkei braucht eine neue Verfassung, darüber sind sich seit Jahrzehnte­n die meisten politische­n Beobachter einig. Die aktuelle stammt aus dem Jahr 1981 und ist, nach einem Putsch, vom Militär ausgearbei­tet worden. Und vielleicht braucht die Türkei wirklich ein modifizier­tes System, das Land ist ja ein einzigarti­ges, östlich und westlich geprägtes Gefüge. Was die Türkei aber nicht brauchen kann, ist eine Verfassung, die auf einen Mann zugeschnit­ten ist, der das große Heil in der Vergangenh­eit sucht.

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