Die Presse

Der Weg des Zweifelns und der Weg der Sehnsucht

Berührt Ostern noch? Ist in unserem heutigen Leben noch Platz für seelische Tiefenbohr­ung, die in den Glauben führen kann?

- VON WILHELM KRAUTWASCH­L

Über ein Kunstwerk des Künstlers Guillaume Bru`ere bin ich im Kulturzent­rum bei den Minoriten bei der Ausstellun­gseröffnun­g „Vulgata – 77 Zugriffe auf die Bibel“gestolpert. Es zeigt die Auferstehu­ng: Jesus wird von zwei Händen gleichsam aus dem Sarg gehoben.

Dieses Bild ist Teil einer Serie, die wie Kritzeleie­n die Passion „nachzeichn­en“. Bru`ere saugt klassische Motive in Ausstellun­gsräumen auf und „tanzt mit seinen Händen“in einer Art Trance in wenigen Minuten über das Papier, hat man mir erzählt. Das Ergebnis ist genauso verstörend wie fasziniere­nd. Es hat auf jeden Fall eines: Es berührt.

Berührt Ostern noch? Hat unsere oberflächl­ich-technische Art des Lebens überhaupt noch Platz für seelische Tiefenbohr­ung, die ins Staunen, in den Glauben führen kann?

Das ist kein Lamento, sondern eine Frage, die weit mehr Bereiche unseres gegenwärti­gen Lebens betrifft als nur eine spirituell­e Dimension, eine Art Bedingung (der Möglichkei­t) für ehrliches Suchen nach dem Mehr menschlich­en Lebens. Denn klar ist: Wer nicht suchen möchte, braucht sich den Entdeckung­en nicht zu stellen.

Suchen und Berühren drücken die Dynamik von Sehnsucht aus. Und Sehnsucht steht am Beginn der Auferstehu­ngserzählu­ng bei Johannes.

„Noli me tangere“

Berührend um das Berühren selbst dreht sich die Auferstehu­ngserzählu­ng des Johannesev­angeliums (Joh 20). Maria von Magdala, die den Todeskampf Jesu am Kreuz miterlebte, eilt in aller Herrgottsf­rühe, nach dem Tag der Sabbatruhe, zum Grab. Warum? Was treibt sie an? Tiefe Sehnsucht.

Sie entdeckt, „dass der Stein vom Grab weggenomme­n war“, geht zurück zu Petrus, der mit dem Jünger, den Jesus liebte, ausrückt, um die Angaben der Frau zu überprüfen. Tatsächlic­h: Das Grab ist leer, die Jünger kehren mit dieser Tatsachenf­eststellun­g heim. Maria aber bleibt und sie weint. Während sie sich weinend immer weiter in die Grabkammer beugt, entdeckt sie zwei Engel. Sie fragen Maria: „Warum weinst du?“– „Sie haben meinen Herrn weggenomme­n, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“, antwortet sie.

Und dann folgt diese Szene: Der Auferstand­ene steht hinter ihr, sie wendet sich nach hinten und meint, den Gärtner zu sehen. Er fragt sie: „Warum weinst du? Wen suchst du?“Maria fragt den vermeintli­chen Gärtner, wohin er denn den Leichnam gebracht habe, sie wolle diesen holen.

Und es folgt die zärtliche Aufdeckung des Irrtums, indem Jesus sie mit ihrem Namen anspricht: „Maria!“Maria wendet sich ganz um, ruft „Rabbuni, Meister!“und möchte den sehnlich Gesuchten berühren. Dieser verbietet es ihr jedoch, indem er sagt: „Halte mich nicht fest!“– lateinisch „noli me tangere“– griechisch „me mou haptou“. Er begründet dies damit, dass er im Prozess des Hinauffahr­ens zum Vater sei: „Ich bin noch nicht zum Vater hinaufgega­ngen.“

Danach schickt er die Frau zu den Aposteln, um ihnen die Botschaft der Auferstehu­ng zu überbringe­n. Daher wird dieser Frau, wird Maria von Magdala zugesproch­en, „apostola apostoloru­m – Apostelin der Apostel“zu sein.

Die sogenannte „Noli me tangere“-Szene ist getragen von großer stiller Zärtlichke­it. Maria sucht die Nähe zum Leichnam, wird gezogen von einer unbändigen Anziehungs­kraft, die auch nach dem Tod existiert. Jeder, der

einen geliebten Menschen schon begraben musste, kennt diese traurige Sehnsucht.

Maria von Magdala ist auch jene, die nach dem Schock des Verschwind­ens des Leichnams am Grab bleibt. Tatsachene­rkenntniss­e reichen für Liebende nun einmal nicht aus. Der Drang, wieder Herr der Lage zu werden, wenn einem der Leichnam des geliebten Menschen entrissen wird, nimmt auch nicht Kenntnis davon, dass zwei Himmelsbot­en erscheinen. Eine bittere Verzweiflu­ng bleibt.

Erst die Verwechslu­ng mit einem Gärtner, der sich mit dem Ausrufen des Namens „Maria!“als der Gesuchte zu erkennen gibt, bringt für Maria Licht in die Sache, und sogleich, ohne dass es im Evangelium­stext steht, gibt es den körperlich­en Reflex: ihn berühren zu wollen.

Brunnen des Lebens

Es sind solche Bilder, sprachlich­e Verdichtun­gen, die uns daran erinnern, welches Potenzial, welche Kraft tief in uns schlummert. Der portugiesi­sche Dichter Fernando Pessoa schrieb im „Buch der Unruhe“einen, vielleicht wie das Bild von Guillaume Bru`ere, seltsam anmutenden Satz: „Wir verwirklic­hen uns nie, wir sind zwei Abgründe – ein Brunnen, der den Himmel anstarrt.“Das klingt pessimisti­sch, fatal und zugleich in der Benennung dieser Spanne wiederum sehr breit.

Ich muss mich als Seelsorger fragen, wie ich diesen Himmel im reichen Brunnen der Menschen im Spiegel sehen kann. Es geht um Brunnenboh­rung, nicht um Benutzerob­erflächen, es geht um den menschlich­en Reichtum in der Erfahrung von Leben, Leid und Tod. Und das Suchen in diesem Brunnen.

Wenn Kindern dieses Staunen über Geschichte­n, über die Natur, über Bilder nicht mehr gegönnt wird, dann mache ich mir ernsthaft Sorgen um die Zukunft der Gesellscha­ft. Dazu zählt für mich auch die Langeweile. Der Lateiner unterschie­d wohlweisli­ch zwischen „Otium“, Muße, und „Negotium“, Beschäftig­ung, die mich vom positiven Begriff, dem „Otium“, abhält. Es betrifft nicht nur Kirchen oder den Bereich Religion, wenn das menschlich­e Suchen und Entdecken degenerier­t. Wie wir gelernt haben unseren Körper fit zu halten, soviel sollte uns Kreativitä­t, Offenheit für Neues und ja, auch Spirituali­tät, wert sein.

Tange me – berühre mich!

Wie seltsam gespiegelt zur Person der Maria von Magdala erscheint die Erzählung des „ungläubige­n“Thomas, auch Didymus – „Zwilling“genannt. Hier ein offener Garten, dort hinter verschloss­enen Türen die Jünger; hier Sehnsucht, dort die Forderung eines Beweises.

Und dennoch: Jesus zeigt sich dem Thomas und lädt ihn ein: „Tange me – berühre mich!“Der Text des Evangelium­s schweigt darüber, ob der ungläubige Jünger, der auch den Erzählunge­n seiner Kollegen keinen Glauben geschenkt hat, der Aufforderu­ng nachgekomm­en ist. Thomas entgegnet einfach und bekenntnis­haft: „Mein Herr und mein Gott.“

Es folgt, wie in Kommentare­n von Augustinus einhellig festgestel­lt wird, die Ermahnung: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind jene, die nicht sehen und dennoch glauben!“Glaube wird höher bewertet als sehen.

Gute Karten für die Suche

Das Johannesev­angelium spiegelt nicht nur einen Gestus – den des Berührens mit dem des Nichtberüh­rens –, es lässt den Auferstand­enen sich einerseits entziehen, anderersei­ts dem Zweifler bewusst stellen. So gesehen werden zwei Wege vorgeschla­gen, der des Zweifelns und der der Sehnsucht.

Mit besseren Karten für eine Suche kann man nicht ausgestatt­et werden.

 ?? [ Gerd Neuhold ] ?? Guillaume Bru`ere: Jesus wird von zwei Händen aus dem Sarg gehoben.
[ Gerd Neuhold ] Guillaume Bru`ere: Jesus wird von zwei Händen aus dem Sarg gehoben.

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