Die Presse

Forscher nutzen Literatur als Erinnerung­sort und rekonstrui­eren aus den Werken die Geschichte von drei westukrain­ischen Städten.

- VON FRANZISKA LEHNER

Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlands geliebt, und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und Schwächen.“Mit diesen Worten verabschie­det sich der Autor Moses Joseph Roth 1932 von seiner Heimat Galizien und der Habsburger­monarchie. In seinem Roman „Radetzkyma­rsch“sticht eines hervor: das Gefühl der Entwurzelu­ng.

Bei der Geburt 1894 war sein Geburtsort Brody noch Teil der Habsburger­monarchie. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Kleinstadt Teil von Polen, wurde 1939 von der Roten Armee besetzt, später vom NS-Regime geplündert und wurde nach 1945 Teil der Sowjetunio­n. Für Roth bleibt Brody ein Ort der verlorenen Heimat, dessen Bauwerke und Straßen in seinen Romanen beschriebe­n werden.

„Bauwerke sind die Konstanten der Städte“, sagt Stefan Kubin von der TU Wien. Vertreibun­g, Völkermord und Auswanderu­ng verändern Städte. Die Bauwerke bleiben als stumme Zeugen über.

In den Städten Brody, Drohobytsc­h und Buchach ist genau das geschehen. In der heutigen Westukrain­e wurde durch die Shoa, Zwangsumsi­edelung und Massenvert­reibungen von Juden, Polen, Ukrainern, Deutschen, Rumänen und anderen ethnischen Minderheit­en die Mehrheit der Bevölkerun­g beinahe vollkommen ausgewechs­elt. Gebäude und städtische Räume blieben als Spuren der verschwund­enen Bevölkerun­g über.

Literatur als Reiseführe­r

„Gehen Sie mit einem Buch durch die Stadt und vergleiche­n Sie beschriebe­ne und vorhandene Bauwerke. Ihnen wird auffallen, dass sich so manches verändert hat oder gar nicht mehr existiert“, sagt der Bauhistori­ker Kubin.

Er ist Teil von einem interdiszi­plinären Team, das nach der ursprüngli­chen Identität der Städte Brody, Drohobytsc­h und Buchach sucht. Grundlage ihrer Forschung sind die Bücher von Joseph Roth, Bruno Schulz und Samuel Agnon.

Alle drei sind Söhne aus einer der drei Städte, alle sind Ende des 19. Jahrhunder­ts geboren und verwenden in ihren Werken konkrete Stadtbesch­reibungen. Ihre Litera- tur wird für die Forscher zu einem historisch­en Reiseführe­r, meint auch Alois Woldan: „Erinnerung ist immer ortsgebund­en. Kein Wunder, dass Schriftste­ller über Straßenzüg­e, Villen oder öffentlich­e Plätze schreiben.“

Identität und Stadt

Woldan lehrt an der Uni Wien Slawische Literatur. Er gründete 2013 gemeinsam mit dem schwedisch­en Professor für Europäisch­e Studien, Bo Larson von der Lund Universitä­t, das Wissenscha­ftsprojekt „Literatur und Stadt“.

wurde 1894 in der galizische­n Stadt Brody geboren. Der jüdische Schriftste­ller arbeitete in Lemberg, Wien, Berlin und starb nach seiner Emigration in Paris.

war 1892 das dritte Kind von Jakub und Henrietta Schulz. Seine autobiogra­fischen Erzählunge­n wurden durch seine galizische Heimatstad­t Drohobytsc­h beeinfluss­t.

„Jede historisch­e und politische Ära hat die Städte geformt, Straßen umbenannt oder die Bewohner beeinfluss­t“, sagt Woldan. Die heutige Form der ukrainisch­en Kleinstädt­e erinnert nur noch an ihr ursprüngli­ches Aussehen und die Habsburger­monarchie, die die drei Autoren geprägt hat. „Wir fragen uns, inwieweit die Städte durch literarisc­he Texte und den Alltag ihrer Autoren interpreti­ert werden können“, sagt Woldan.

Ziel der Forschung sind unkonventi­onelle Stadtportr­äts, die den Charakter der Städte zur Zeit von Roth, Schulz und Agnon wiedergebe­n. Das internatio­nale Forscherte­am aus Österreich, Schweden, Polen und der Ukraine analysiert die Beziehung zwischen Städten und Autoren, literarisc­hen Texten und städtische­m Umfeld.

Erwachter Stolz

Der Westen der Ukraine mit seinen alten Jugendstil­gebäuden und Denkmälern lag lange im Dornrösche­nschlaf, meint Kubin: „Bis heute gibt es in Brody, Drohobytsc­h und Buchach Architektu­r und Straßenzüg­e, die man bei uns in Wien nicht mehr findet.“

Wie der architekto­nische Wert der Häuser waren auch die Autoren Schulz und Agnon beinahe vergessen. Aber es gibt Hoffnung. „Die heutige Bevölkerun­g interessie­rt sich wieder für die eigene Geschichte und ihre Autoren“, sagt Kubin. Alois Woldan sieht sogar eine Wiederbele­bung der Literaturs­zene: „Die Literaten werden wiederbele­bt. Sie gelten heute als berühmte Söhne, auf die man stolz sein kann.“

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[ Stefan Kubin ] Der jüdische Friedhof in der Stadt Brody bestand seit 1834: Wie sieht er heute aus, und wie sahen ihn Schriftste­ller früher?
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[ Kubin ] Reste der Synagoge in Brody.

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