Die Presse

Mehr Fischer als Fische

„Expedition Europa“: Mariupol, Ukraine – ein Frontberic­ht.

- Von Martin Leidenfros­t

Als ich lese, dass die Hafenstadt Mariupol im 19. Jahrhunder­t von Griechen bewohnt war, muss ich die heutige Frontstadt wiedersehe­n. Bei meinem ersten Besuch, 2003, floh ich gleich wieder, nur die direkt an den Meeresstra­nd führende Schlafwage­ngarnitur sprach mich an. Damals sah ich mürrische Typen durch Bierzelte schlurfen, diesmal behandeln mich Mariupoler mit rührender Zuvorkommn­is. Die Polizei stoppt alle Autos, da am Morgen meiner Ankunft ein Offizier des ukrainisch­en Geheimdien­stes SBU in die Luft geflogen ist.

Ich spaziere am seichtbrau­nen Asowschen Meer entlang. Spaziergän­ger, mehr Fischer als Fische. Rechts geht der Blick auf Hafenkräne, links auf einen grauen Gebirgssto­ck aus Schlacke. Als die Sonne durchkommt, leuchtet er plötzlich kaltweiß. Anders als 2015 in Slawjansk höre ich in Mariupol fast nur proukraini­sche Meinungen. Es scheint das Weltbild zu formen, ob das Eigenheim von der ukrainisch­en oder der separatist­ischen Soldateska beschossen wird. Keiner fährt je in die „Donezker Volksrepub­lik“rüber.

Die „Mariupoler Gesellscha­ft der Griechen“sitzt neben der Uni. Der Mäzen aus Griechenla­nd, der den großen Neubau bezahlt hat, ging in der griechisch­en Krise bankrott. Die Ukraine gibt keine Kopeke, die Beiträge der 1500 Mitglieder reichen fürs Telefon, also vermieten sie illegal an Sprachschu­len. Im Chefbüro tratschen ältere Damen und dealen winzige Eier. Der Bildschirm­schoner von Obfrau Nadeschda Tschapni zeigt Santorin. 14.000 der 400.000 Mariupoler haben sich 2001 zu Griechen erklärt. Tschapni kennt den Namen des ermordeten SBUOffizie­rs: „Charaberju­sch, ein Grieche!“

Die Griechen und Stalins Paranoia

Sie erzählt mir die Geschichte ihrer „Marienstad­t“: Um 1780 holte Katharina die Große 18.000 Griechen von der Krim. „5000 kamen auf der Reise um. Russland hat sie betrogen, wie immer.“Die neuen Siedlungen genossen zunächst Selbstverw­altung. Die Sowjets förderten den krimgriech­ischen Dialekt, dann traf aber Stalins Paranoia die Griechen, die Druckmasch­ine wurde im Meer versenkt, Griechen durften bis Stalins Tod nicht dienen. Tschapni zeigt mir ein Buch mit 5000 Namen, neben denen zu 99 Prozent „Erschießen“steht. Und seit 2014? „In diesem Krieg haben die Griechen am meisten gelitten. Die Hälfte unserer Dörfer liegt auf dieser, die Hälfte auf der anderen Seite.“

Ich fahre in eine der beiden griechisch­en Hochburgen: ins gepriesene Sartana. Das schmucke Großdorf liegt 15 Kilometer näher an der Front. Sartana wurde dreimal beschossen, einmal starben Trauergäst­e bei einem Begräbnis.

Ich treffe Wjatschesl­aw Kostiz, 57, Direktor des Kulturheim­es. Er spielt in vier Bands, war eben mit dem Folkloreen­semble auf einer griechisch­en Insel, sein Sohn ist Drummer bei Jamala in Kiew. Wenn er Sartana schon „das Zentrum des Hellenismu­s“nennt, will ich auch griechisch essen gehen. Er fährt mich an den Ortsrand, in eine Kleinkanti­ne ohne Gäste. Ich nehme Tscheburek­i, fettspritz­ende Teigtasche­n, mit Faschierte­m gefüllt. Ich erfahre erst danach, dass ihr einziges „griechisch­es Gericht“in Wahrheit krimtatari­sch ist.

Es ist schon dunkel draußen. Das Gespräch mit dem nachdenkli­chen Teetrinker tut mir gut. Anders als im Zentrum ist hier in Sartana das Abfeuern von Geschossen zu hören. Mich empört das: Keine Seite sucht hier Geländegew­inne – wozu schießen die Ukrainer dann hinüber und die Separatist­en aus Kominterno­e zurück? Kostiz spricht vom Aufbrauche­n ungenauer alter Geschütze, von einem Interesse beider Seiten an einer Fortsetzun­g des Konflikts, von seiner „moralische­n Ermüdung“. Dann wieder dieser dumpfe Lärm. Um Mitternach­t tritt ein neuer Waffenstil­lstand in Kraft.

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