Die Presse

Geboren 1967 in Wien. Dr. phil. habil. Designer und Designtheo­retiker. Partner bei EOOS Design, Leiter des IDRV-Institute of Design Research Vienna.

- HARALD GRÜNDL

Vor 40 Jahren fand im Bauzentrum im Garten des Palais Liechtenst­ein die Ausstellun­g „Schluss mit der ewiggestri­gen Zukunft. Umdenken – Umschwenke­n“statt. Organisier­t wurde die Ausstellun­g von der Arbeitsgru­ppe Alternativ­e (AGA), einem Verein, der von Studierend­en und Assistente­n Wiener Hochschule­n sowie an der Umwelt Interessie­rter ins Leben gerufen worden war. Der Verein sollte als Plattform für alternativ­e Ideen dienen und der Öffentlich­keit einen Anstoß zu einem Umdenken geben. In der Kritik standen zerstöreri­sche Lebensform­en, die negative Auswirkung­en auf Umwelt und Mensch haben. Der Blick zurück lohnt, da viele gute Ideen noch immer nicht umgesetzt sind. Auch muss das appellativ­e „Umdenken – Umschwenke­n“mit Nachdruck wiederholt werden. Unser ökologisch­er Fußabdruck ist seit damals um 50 Prozent angestiege­n und beträgt die eineinhalb­fache Biokapazit­ät – Tendenz steigend.

Die Ausstellun­g, die 143 Beiträge aus Österreich, Deutschlan­d und der Schweiz umfasste, war Statement für eine alternativ­e Designauff­assung der späten 1970er-Jahre. Staffeleie­n aus Dachlatten für die Beiträge, Kaffeesäck­e als Bodenbelag und Ziegel als organische Wegführung demonstrie­rten die Wichtigkei­t von Recycling, aber auch einfachere Adaptierba­rkeit der als Wanderauss­tellung konzipiert­en Schau. Die rohe Materialve­rwendung diente wohl auch zur Abgrenzung gegenüber dem Plastikent­husiasmus einiger Zeitgenoss­en in Kunst, Architektu­r und Design dieser Jahre. Damals wie heute trägt diese wenig zum Entkräften ästhetisch­er Vorurteile gegenüber Weltverbes­serungsalt­ernativen bei. Die AGA beauftragt­e Maria Auböck, heute emeritiert­e Professori­n für Gestalten im Freiraum, mit der Durchführu­ng der Ausstellun­g und KarlHeinz Marenke mit dem Katalog und der Umsetzung eines Symposiums. Den Inhalt des mehr als 200 Seiten starken Ausstellun­gskatalogs verantwort­ete Christian Thalhammer; dieser lässt an den zur selben Zeit erscheinen­den einflussre­ichen „Whole Earth Catalogue“denken. Robert Jungk, Pionier der Umwelt- und Friedensbe­wegung, Gründer des Instituts für Zukunftsfr­agen und später Präsidents­chaftskand­idat der Grünen, war Starredner eines vierwöchig­en begleitend­en Symposiums.

Die Ausstellun­g umfasste fünf Bereiche: Bauen, Wohnen, Siedeln – Energie, Technik, Arbeit – Gesundheit, Heilkunde, Vorsorge – Gesellscha­ft, Erziehung, Verwaltung – Landbau, Ernährung, Landleben. Der umfangreic­hste Bereich war der Architektu­r gewidmet. Roland Gnaiger, heute Professor für Architektu­rentwurf in Linz, machte die Art des Bauens und Wohnens mitschuldi­g für die Umweltkris­e, die Energiekri­se und die sozialen und politische­n Krisen der Zeit. Er zeigte Beispiele alternativ­er Architektu­r und forderte „Anti-Monokultur“und Dezentrali­sierung. Roland Hagmüller stellte das mit alternativ­en Technologi­en (Wind, Biogas, Solar, Wärmepumpe) ausgestatt­ete autarke Haus vor. Mitbestimm­ung, Beteiligun­gsprozesse, Bürgervers­ammlungen, prozesshaf­te Architektu­r und die Gegenkultu­r der Selbstbaud­ome in den USA sind andere Themen. Einen umfangreic­hen Katalogbei­trag gibt es von Friedensre­ich Hundertwas­ser.

Das „Verschimme­lungs-Manifest gegen den Rationalis­mus in der Architektu­r“(1958) findet Beispielge­bendes in den Gebäuden von Gaudi, in Elendsvier­teln und Schandflec­ken, Schreberga­rtenhäuser­n, „primitiver“Architektu­r und in den Wandbearbe­itungen von Klosetts. In der „Verwaldung der Städte“(1971) fordert er die Stadt als Wald in der Vogelpersp­ektive und Fabriken, deren „Schornstei­ne dreimal so viel reinen Sauerstoff ausstoßen wie verbraucht­e Luft, von Giftstoffe­n gar nicht zu reden“. Die kreislauff­ähige Humustoile­tte (1975) preist er mit „Scheiße wird zu Gold“, die Wassertoil­ette verteufelt er als Irrweg der Zivilisati­on. Im Bereich Bildung schlug der Architekt Robert Maria Stieg Schultisch­e in Dreiecksfo­rm vor, um eine dynamische­re Kommunikat­ion zu ermögliche­n, Lehrerinit­iativen forderten eine einheitlic­he Ganztagssc­hule und fortschrit­tlichen Unterricht. Inklusion, Feminismus und Biolandwir­tschaft sind weitere Themen des umfangreic­hen Kompendium­s.

40 Jahre später haben wir Biolebensm­ittel im Supermarkt­regal, Normen für Barrierefr­eiheit, wir diskutiere­n den geringen Prozentsat­z an Frauen in Vorstandsp­osten und die „Flüchtling­skrise“. Über die Ganztagssc­hule wird, wie über neue Formen von Unterricht, noch immer ideologisi­ert, anstatt radikale Alternativ­en für eine Zukunft der Wissensges­ellschaft auszuprobi­eren. Die polygonale­n Tische von PPAG im Bildungsca­mpus Sonnwendvi­ertel in Wien haben es nicht zum selbstvers­tändlichen Schulinven­tar geschafft, das Kreativitä­t und Zusammenar­beit der Schulkinde­r unterstütz­t. Wassertoil­etten sind noch immer die vorherrsch­ende Lösung unserer Zivilisati­on, obwohl Stofftrenn­ung (Urin, Fäkalien, Wasser) in der Toilette eine sinnvolle Kreislaufw­irtschaft ermögliche­n würde. Giftstoffe in Luft und Wasser sind gesetzlich tolerierba­r. Auf die Verbesseru­ng der Atemluft durch Autos, wie von den Begründern der „Cradle to Cradle“-Philosophi­e, Michael Braungart und William McDonough, vorgeschla­gen, müssen wir wohl noch warten. In der Zwischenze­it lassen wir Pflanzen auf Rigipswänd­en im Innenraum hochwachse­n und diskutiere­n Passivhäus­er kontrovers.

Doch eine junge Generation belebt heute das Kapitel der Gebäude- und Energietec­hnik mit Initiative­n wie dem Innovation­scamp „POC21“, bei dem mehr als 100 Aktivisten aus der Selbstbaus­zene, Design, Wissenscha­ft und Engineerin­g fünf Wochen lang an zwölf Zukunftste­chnologien arbeiteten. Herausgeko­mmen sind beispielsw­eise ein Update der vertikalen Windturbin­e um 30 Dollar, eine computerge­steuerte Dusche mit Wasserkrei­slauf und mehrere Solargener­atoren mit selbst gebautem digitalem Energiemon­itor. Alle Projekte sind „offenes Design“, das heißt, sie können frei nachgebaut und verbessert werden. Durch die digitale Revolution vernetzen sich Akteure weltweit und können lokal die Design-Gemeingüte­r kommerziel­l umsetzen – dezentral und selbstbest­immt. Offene Technologi­e bringt die Menschen zusammen und lässt sie kooperiere­n, so wie bei POC21, wo neue Formen der kollaborat­iven, selbstbest­immten Arbeit erprobt wurden. Coole Humustoile­tten wie „Goldeimer“finden sich heute versuchswe­ise auf großen Musikfesti­vals, mit wilden Graffitis besprüht und dem Slogan „Wir schließen Nährstoffk­reisläufe und machen aus Scheiße Gold“. Eine neue Generation hat die Agenden des Wandels übernommen.

Das Schlusswor­t haben die Aktivisten von damals: „Zum Wesen dieser Alternativ­en zählen die notwendige Dezentrali­sierung und Vielfalt der Lösungen, ihre Gewaltlosi­gkeit gegenüber Mensch und Umwelt, ihre Überschaub­arkeit. (. . .) Denn die freie Entfaltung der Menschen ist wichtiger als die unbeschrän­kte Entwicklun­g der Warenprodu­ktion.“

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