EU-Beitritt: Soll Brüssel die Verhandlungen abbrechen?
Beitrittsgespräche. Einige Regierungen, darunter die österreichische, fordern einen Abbruch der Verhandlungen mit Ankara. Die „Presse“fasst zusammen, was für eine Fortsetzung der Gespräche spricht und was für das endgültige Aus.
EVET Bisher haben sowohl das Europaparlament als auch einzelne EU-Regierungen lediglich von einem Aussetzen der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gesprochen. Und das hat gute Gründe. Denn die fortgesetzte Aussicht auf einen späteren EU-Beitritt ist für das Land die stärkste Motivation für die Rückkehr zu rechtsstaatlichen und demokratischen Normen. Werden die Beitrittsverhandlungen hingegen abgebrochen, verzichtet die EU auf ihre Einflussmöglichkeiten. Derzeit liegen die Verhandlungen sowieso auf Eis. Von den 32 Kapiteln wurde lediglich ein einziges – Wissenschaft und Forschung – abgeschlossen. Es gibt Stimmen, vor allem in der EUKommission, die sogar darauf drängen, die Verhandlungen über heikle Kapitel wie Justiz und Inneres zu starten. Auf diesem Weg könnte die EU nämlich ganz konkret Verfehlungen und Widersprüche mit dem europäischen Wertesystem auf das Tapet bringen.
Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) sieht bei einem Stopp der Beitrittsverhandlungen die große Gefahr, dass sich Ankara „noch weiter von Europa entfernt“. So wie er hoffen viele in der EU, dass sich die Stimmung in der Türkei wieder wendet. Denn es gibt vor allem in den Großstädten Istanbul und Ankara eine große proeuropäische, prowestliche Bevölkerungsgruppe, die darauf setzt, dass die Bande mit den EU-Hauptstädten nicht zerrissen werden. Für sie ist der europäische Einfluss die einzige Chance, das Land vor einem Abgleiten in den Totalitarismus zu bewahren.
Für eine Fortsetzung der Beitrittsperspektive sprechen für die EU-Seite zudem ganz pragmatische Gründe: Zum einen ist Europa in Fragen der strategischen Sicherheitspolitik von der Türkei abhängig. Das Nato-Land ist der westliche Vorposten in einer zunehmend problematischen Region. In der Nachbarschaft von Syrien, Irak und Iran bietet die Türkei Einflussmöglichkeiten auf den arabischen Raum. Obwohl Staatspräsident Recep Tayyip Ergogan˘ mehrfach damit gedroht hat, ist eine Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik derzeit unwahrscheinlich. Allerdings hat Moskau bereits in Ankara antichambriert und sich als Alternative zur EU angedient. Neben der sicherheitspolitischen Schiene ist die Türkei auch für die europäische Energiepolitik, für die Ausweitung des Binnenmarkts und als Partner in Flüchtlingsfragen von Bedeutung. Die Fortsetzung von Beitrittsverhandlungen sichert die weitere Umsetzung des Abkommens, das seit Frühjahr 2016 zu einer deutlichen Reduzierung des Flüchtlingsstroms über Griechenland beigetragen hat.
Will die EU neben der Flüchtlingskrise auch die Zypern-Teilung bewältigen, benötigt sie dafür ebenfalls die Türkei. Die im Nordteil der Insel lebenden Türken sind im Grunde zu einer Wiedervereinigung bereit, wollen aber ihre Schutzmacht behalten. Ohne Ankara wird es also zu keiner Befriedung der Insel kommen.
Gerade an der Kippe braucht es Partner
Nicht unmittelbar mit den Beitrittsverhandlungen verknüpft, sind die engen Wirtschaftsbeziehungen, denn seit 20 Jahren besteht bereits eine Zollunion zwischen der EU und der Türkei. Es sind jedoch gerade die international agierenden Unternehmen, die auf eine weitere EU-Perspektive der Türkei setzen. Mehrerer Tausend Firmen aus der EU haben sich im Land angesiedelt. Sie benötigen ausreichende Rechtssicherheit.
Die Rolle der Europäischen Union darf nicht überschätzt werden, aber sie könnte letztlich gerade in dieser heiklen Phase, da das Land an einer historischen Kippe steht, den Ausschlag geben. Die Türkei könnte sich – wie es Bundeskanzler Christian Kern ausdrückt – zu einem „failed state“entwickeln, oder doch zu einem demokratischen, säkularen Staat. (wb) HAYIR Wie umgehen mit einem Land, dessen Regierungsvertreter einen mit Nazivorwürfen überziehen, Drohungen ausstoßen, ausgewanderte Ex-Landsleute als Avantgarde einer klandestinen Conquista zu instrumentalisieren trachten, zugleich aber Respekt und Zugeständnisse politischer wie pekuniärer Natur einfordern? Dieser Herausforderung muss sich die Europäische Union rasch stellen.
Bis dato konnten sich die Entscheidungsträger in Brüssel und den Hauptstädten der Union den Luxus leisten, der TürkeiFrage aus dem Weg zu gehen, weil sie mit dem Status quo träge dahindümpelnder EUBeitrittsgespräche zufrieden waren und ansonsten nicht genau hinschauen wollten. Das Referendum, dessen einziger Zweck die Inthronisierung von Recep Tayyip Erdogan˘ an der Spitze einer gelenkten Demokratie nach Vorbild Russlands war, hat den ohnehin löchrig gewordenen Schleier der Ignoranz weggefegt.
Der offizielle Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara ist das Gebot der Stunde, weil die Kraft der Argumente für eine Fortsetzung der Gespräche in den letzten Wochen und Monaten nachgelassen hat. Lange Zeit hatte es geheißen, dass die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft einen – überspitzt formuliert – zivilisierenden Einfluss auf Ankara habe. Demnach waren die demokratiepolitischen Fortschritte der Türkei nach der Jahrtausendwende auch ein Verdienst Europas, das die türkische Regierung zu Reformen angespornt hatte.
Mittlerweile hat sich dieses Argument aber ins Gegenteil verkehrt. Nach jeder Gesetzesinitiative, die den demokratischen Aktionsradius in der Türkei weiter einschränkt, können Vertreter der Regierungspartei AKP auf die laufenden Beitrittsgespräche mit Brüssel verweisen und erklären, die Vorwür- fe der Regimekritiker seien haltlos, weil die prinzipientreuen Europäer ansonsten nicht mit der Türkei verhandeln würden. Anstatt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fördern, adelt die Beitrittsperspektive autokratische Bestrebungen.
Aus demselben Grund zieht das Argument, wonach die Perspektive auf EU-Beitritt die Zivilgesellschaft in der Türkei stärke, nicht mehr. Man kann nicht einerseits behaupten, dass die türkische Regierung progressiv eingestellt, den europäischen Werten verpflichtet und daher einer EU-Mitgliedschaft würdig sei, und andererseits die Hexenjagd auf Andersdenkende, die Inhaftierung von Journalisten und rollende Repressionswellen gegen vermeintliche Volksfeinde glaubhaft anprangern. Diesen Spagat kriegt selbst die diplomatisch geschmeidige EU nicht hin.
Drohungen und Erpressungsversuche
Bleibt somit die Realpolitik – konkret der türkische Beitrag zur Eindämmung der Flüchtlingskrise – als einzige Begründung für die Fortsetzung der Beitrittsgespräche. Dass Ankaras Kooperationsbereitschaft Anfang 2016 zur Beruhigung der Lage beigetragen hat, steht außer Zweifel. An dieser Stelle muss allerdings angemerkt werden, dass diese Bereitschaft nicht durch eine tiefe Verbundenheit mit Europa motiviert war, sondern von der EU mit sechs Mrd. Euro erkauft wurde. Erdogans˘ gebetsmühlenartige Drohungen, die Flüchtlinge nach Europa zu schicken, sollte Brüssel nicht spuren, wirken nicht mehr so gut, seit die Balkanroute geschlossen ist. Sie zeigen aber klar auf, was längst klar sein sollte: Wiederholte Erpressungsversuche sind keine Basis für eine vertrauensvolle Beziehung. Schon allein aus dem Grund des Selbstrespekts muss die EU diesem Spektakel ein Ende bereiten. (la)