Die Presse

Knapper Sieg verunsiche­rt Erdo˘gan-Partei

Türkei-Referendum. Präsident Erdo˘gan kritisiert europäisch­e Wahlbeobac­hter als „Terrorhelf­er“. Er und seine Minister denken nicht daran, der Wahlanfech­tung der Opposition nachzugebe­n. Doch in seiner Partei wachsen die Spannungen.

- Von unserer Mitarbeite­rin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Als ehemaliger Fußballspi­eler glaubt Recep Tayyip Erdogan˘ zu wissen, worauf es ankommt: Ob man nun 1:0 oder 5:0 gewinne, sei unerheblic­h, sagte der türkische Staatschef mit Blick auf das knappe Ergebnis der Volksabsti­mmung über die Einführung des Präsidials­ystems am vergangene­n Sonntag. Wichtig sei allein das Resultat, und das habe ihn bestätigt. Erdogan˘ bezeichnet die europäisch­en Wahlbeobac­hter, die Kritik an Unregelmäß­igkeiten beim Referendum geübt hatten, als Terrorhelf­er.

Andere führende Regierungs­politiker sind weniger unbeirrt als der Präsident. Nach dem Referendum zeigt sich, wie erschütter­t die Erdogan-˘Partei AKP durch den von ihr unerwartet großen Widerwille­n der Türken ist. Mehr als 23 Millionen Türken hatten am Sonntag Erdogans˘ Präsidialp­läne abgelehnt. Er und die AKP konnten die Einführung des neuen Systems, das dem Präsidente­n deutlich mehr Macht gibt als bisher, nur mit 51,3 Prozent der Stimmen durchsetze­n. Und das, obwohl die Opposition im Wahlkampf klar benachteil­igt war und sich die AKP mit der Rechtspart­ei MHP verbündet hatte. In Istanbul und anderen großen Städten war der Widerstand groß. Da die Abstimmung auch als Vertrauens­votum über Erdogan˘ persönlich galt, ist das Ergebnis für die AKP ein gewisser Schock. Schließlic­h will die Partei die 2019 anstehende­n Parlaments­und Präsidente­nwahlen erneut gewinnen.

Merkels „Psychologi­e der Schuld“

Erdogan˘ will von Einwänden nichts wissen. Dem Sender al-Jazeera sagte er, Wahlbeobac­hter der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE) seien „Vertreter der Terrororga­nisation“gewesen. OSZE-Vertreter hätten Fahnen der ver- botenen Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) in der Hand gehalten und könnten wohl kaum als unparteiis­ch gelten. Europäisch­en Regierunge­n wie in den Niederland­en und Deutschlan­d warf er vor, ihnen passe die hohe Zustimmung der dort lebenden Türken für das Präsidials­ystem nicht. Die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, habe ihm noch nicht zum Wahlausgan­g vom Sonntag gratuliert und lege damit eine „Psychologi­e der Schuld“an den Tag, sagte Erdogan.˘

Nachdem die Wahlkommis­sion in Ankara die Beschwerde­n der Opposition gegen das Referendum abgelehnt hatte, richten sich die Blicke jetzt auf das Verfassung­sgericht. Ob die erwarteten Einsprüche dort mehr Erfolg haben werden, ist fraglich. Justizmini­ster Bekir Bozdag˘ sagte, weder das Verfassung­sgericht noch der Europäisch­e Menschenre­chtsgerich­tshof in Straßburg seien befugt, die Ergebnisse des Referendum­s zu untersuche­n. Die OSZE verlangte eine Neuauszähl­ung der Stimmen, doch auch das erscheint wenig wahrschein­lich.

Obwohl sich die türkische Regierung offiziell nicht von der Verärgerun­g der Erdogan-˘Gegner beeindruck­en lässt, scheint es hinter den Kulissen anders auszusehen. Unmittelba­r nach dem Referendum hatten einige AKP-Politiker die baldige Einberufun­g eines Sonderpart­eitages angekündig­t, bei dem Erdogan˘ nach den neuen Regeln des Präsidials­ystems erneut zum Parteivors­itzenden gewählt werden solle. Doch der amtierende Parteichef, Premier Binali Yıldırım, hat es plötzlich nicht mehr so eilig mit der Übergabe an Erdogan.˘ Er verwies darauf, dass im kommenden Jahr ohnehin ein Parteitag der AKP anstehe. Vorgezogen­e Neuwahlen lehnt Yıldırım ab.

Interner Streit um Präsidials­ystem

Auch Samil¸ Tayyar, ein üblicherwe­ise sehr loyaler Abgeordnet­er der AKP, sieht Risken für die Partei. Die AKP habe besonders in den Städten den Kontakt zu einem Teil der Wählerscha­ft verloren, sagte Tayyar dem Nachrichte­nportal T24. Die AKP müsse nun versuchen, größere Bevölkerun­gskreise anzusprech­en. Der eigentlich­e Kampf um die Unterstütz­ung der Öffentlich­keit für das Präsidials­ystem beginne erst jetzt.

Erdogans˘ Partei geht nicht geeint an diese neue Aufgabe. Nach Medienberi­chten gibt es Spannungen zwischen dem Präsidente­n und einem Parteiflüg­el, der dem im vergangene­n Jahr zurückgetr­eten Ex-Premier Ahmet Davutoglu˘ nahesteht. Davutoglu˘ ist wie Ex-Präsident Abdullah Gül ein Gegner des Präsidials­ystems. Davutoglu˘ hatte während seiner Zeit als Premier keine Anstalten gemacht, den von Erdogan˘ verlangten Systemwech­sel umzusetzen – das Zögern in dieser Frage soll einer der Gründe für Davutoglus˘ Absetzung gewesen sein.

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