Die Ausmusterung der liberalen Demokratie
Debatte. Leben wir in einer Zeit der Regression? Sigmund Freuds Begriff taucht immer öfter in der Analyse der illiberalen Strömungen und der Demokratiekrise der Gegenwart auf. Immerhin eine Diagnose, Rezepte sind Mangelware.
Der Tag, als Hillary Clinton über ihre Niederlage weinte, scheint bereits weit weg zu sein. Mit ihr trauerten Anhänger eines liberalen Demokratiemodells, sie sahen das „westliche Projekt“in Gefahr. Ist die Demokratie gerade dabei, sich mit demokratischen Mitteln, das heißt mit Zustimmung des Wahlvolks, zu liquidieren? Die Stimmen, die auf die Risken des allgemeinen Wahlrechts hinweisen, nehmen seit Trump und Brexit zu. Eine unzufriedene (aufgeputschte?) Mehrheit kann mit ihren Wahlstimmen ein System umstürzen. Ist das Alarmismus der hegemoniegewöhnten Globalisierungsgewinner? Jedenfalls ist das Grundvertrauen in die Beständigkeit der liberalen Demokratie in einem seit 1945 ungekannten Ausmaß erschüttert. Für die Analyse dieses Gegenwartsphänomens greifen Intellektuelle immer häufiger zum Begriff der Regression.
Backlash, Konterrevolution?
Die Edition Suhrkamp, die alle paar Jahre eine Analyse über „die geistige Situation der Zeit“veröffentlicht, nennt ihren neuesten Band – der zugleich in 13 anderen Sprachen erscheint – „Die große Regression“. Spätestens seit sich die Folgen der Finanzkrise und der Migrationswelle abzeichnen, seien wir mit Entwicklungen konfrontiert, die viele für das Phänomen einer längst vergangenen, dunklen Epoche hielten: dem Aufstieg nationalistischer, antiliberaler Parteien, einer Verrohung des öffentlichen Diskurses durch Demagogen und Misstrauen gegenüber dem etablierten System von Politik und Medien. Adam Michnik sagt im „Presse“-Interview nach der bald eineinhalbjährigen Amtszeit der nationalpopulistischen polnischen Regierung: „Es findet eine Regression statt. Polen verwandelt sich vom Rechtsstaat in einen autoritären Staat wie Putins Russland.“Andere sprechen mit Blick auf die USA, Großbritannien und Osteuropa von einem Backlash, einer kulturellen und politischen Konterrevolution, der Kampf werde zwischen Vertretern einer weltoffenen und veränderungsbereiten Gesellschaft und einer radikalen Ab- und Ausgrenzungskultur ausgetragen. Von dieser Regression, liest man im Buch, sei inzwischen fast ein Drittel der Menschheit betroffen, von Trumps Amerika, Putins Russland, Modis Indien, Erdogans˘ Türkei bis zu EULändern mit autoritären Tendenzen.
Taugt der Begriff Regression für eine Gegenwartsdiagnose? Er geht auf Sigmund Freud zurück, taucht zum ersten Mal in seinem Werk „Die Traumdeutung“(1900) auf und bedeutet einen Rückfall in Entwicklungsphasen (der frühen Kindheit), die bereits für überwunden gehalten wurden, einen psychischen Abwehrmechanismus zur Bewältigung belastender Situationen, der Sicherheit und Geborgenheit geben soll. Dieses elementare Bedürfnis im psychischen Apparat des Menschen steht im Widerspruch zum aufklärerischen Ideal, dass das Individuum wächst, reift, sich entfaltet und immer weiterentwickelt, eine der wichtigsten Denkfiguren im Selbstverständnis der abendländischen Kultur. Ist das ein Produkt naiver Fortschrittsgläubigkeit? Ein Zurückfallen unter ein erreichtes Niveau an „Zivilisiertheit“kann geschehen, die aufgeklärte Zivilisation kann verrohen. Norbert Elias hat das am Beispiel des Nationalsozialismus dargelegt.
Ein düsteres Szenario. Die Frage taucht auf: Kann man die Demokratie vor der totalitären Gefahr nur retten, wenn sie nicht mehr pluralistisch, sondern völkisch-homogen organisiert wird? Oder ist der Weg zur „Führungsdemokratie“unvermeidbar, jenem „Demokratiegespenst, das nur mehr eine Fassade für eine autoritäre Herrschaft abgibt“(Isolde Charim), eine Herrschaft durch Zustimmung, wie sie Erdogan˘ in der Türkei aufbaut? Unvermeidlich auch der uralte Disput: Ist das Volk zu dumm für die Demokratie? Plötzlich taucht wieder Platons Idee auf, die Herrschaft gehöre in die Hände weniger Qualifizierter.
Gute Erklärungen sind Mangelware. Der Sammelband liefert sie nur zum Teil, zu sehr sind die mehrheitlich linken Vordenker auf Neoliberalismus und Globalisierung fixiert, völlig außer Acht lassen sie die Folgen der Digitalisierung. Ganz glücklich scheinen die meisten Autoren, von Zygmunt Bauman bis Slavoj Zˇizˇek, von Paul Mason bis Pankaj Mishra, mit dem Verlagstitel „Die große Regression“nicht zu sein, viele verwenden ihn nicht, er dürfte ihnen, wie die „Süddeutsche“anmerkt, für eine taugliche Gegenwartsdiagnose wohl zu pathologisierend und herablassend-paternalistisch sein.
Ist schon die Diagnose schwierig, dann erst recht die Rezeptur. Hilft die Geschichte? Für den Historiker ist diese Entwicklung vom Aufstieg, Triumph und schließlich Nieder- gang der Demokratie in einem überschaubaren Zeitraum nicht neu. In der kurzen Periode von 1919/20 explodierte die Zahl der Demokratien in Europa geradezu, dem Siegeszug folgten Ernüchterung und eine Reihe von Reautokratisierungen, die ihren Höhepunkt in den 1930er-Jahren erreichte.
Explosiv: Kluft zwischen Elite und Volk
Es gibt dazu Befunde, die für die Gegenwart interessant sind: Die Staaten, in denen die Demokratie scheiterte, waren nicht alle gleich stark von der Weltwirtschaftskrise betroffen. Parlamentarische Demokratien dürfen, um längere Zeit erfolgreich zu sein, die Partizipationsbedürfnisse größerer Bevölkerungsteile nicht systematisch zurückdrängen. Wo dies der Fall ist, können neue politische Akteure eine Mobilisierungskraft entwickeln, die das System aus den Angeln hebt. „Liberale Hegemonie“allein genügt nicht, verhängnisvoll ist die Polarisierung zwischen Wählern und Elitenpolarisierung. Gerät die Demokratie, so die Lehre aus der Zwischenkriegszeit, in die Krise, ist es für Demokraten nicht angeraten, sich zur Übernahme extremer Positionen verleiten lassen und Extremisten nach dem Mund reden. Denn ohne Bewahrung der Kompromissfähigkeit ist die Demokratie verloren.