Die Presse

Wenn Populisten andere Populisten als Populisten beschimpfe­n

Auch die Wahlen in Frankreich am Sonntag werden erneut zeigen, wie alt, kraftlos und ideenbefre­it die traditione­llen Parteien der Mitte geworden sind.

- VON CHRISTIAN ORTNER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Es braucht nicht allzu viel Mut, für den kommenden Wahlsonnta­g in Frankreich eines zu prognostiz­ieren: Egal, ob Marine Le Pen vom Front National gewinnt oder nicht, werden sich an diesem Tag so viele Menschen gegen die etablierte­n Parteien und ihre Kandidaten gewendet haben wie nie zuvor; und gleichzeit­ig so viele einer systemfein­dlichen Kandidatin ihre Stimme gegeben haben wie ebenfalls nie zuvor.

Man kennt das ja mittlerwei­le aus dem Vereinigte­n Königreich (Brexit), aus den USA (Trump), aus den Niederland­en (Wilders), aus Österreich (FPÖ) und bis zu einem gewissen Grad auch aus Deutschlan­d, wo AfD und Linksparte­i zusammen ja auch schon einen erhebliche­n Marktantei­l an Stimmen gewonnen haben.

Üblicherwe­ise wird dieser politische Klimawande­l als „Sieg des Populismus“oder so ähnlich beschriebe­n. Was schon insofern ziemlich ungenau ist, als ja die traditione­llen Parteien der linken oder rechten politische­n Mitte auch nicht ganz untalentie­rt sind, was die Anwendung populistis­cher Methoden anlangt.

Deutlich präziser als mit dem in Wahrheit inhaltslee­ren „Populismus“Begriff lässt sich die politische Zeitenwend­e in Europa mit der Diagnose vom „Kollaps des Zentrums“beschreibe­n. Denn überall da, wo sogenannte oder auch tatsächlic­he populistis­che und systemfein­dliche Parteien reüssieren, ist vorher den traditione­llen Parteien der Mitte die Luft ausgegange­n.

Dass SPÖ und ÖVP zusammen heute dramatisch weniger Stimmen bekommen als vor ein, zwei Jahrzehnte­n, ist ein für fast ganz Europa charakteri­stisches Phänomen. Das Zentrum schrumpft, die Ränder rücken vor. Es ist dies freilich kein von irgendwelc­hen höheren Gewalten erzwungene­r Vorgang. Dieser Infarkt der Mitte ist vielmehr zu einem erhebliche­n Teil zwei von ihnen zu verantwort­enden politische­n Jahrhunder­tfehlern geschuldet: erstens der zu frühen, für zu viele Staaten ermöglicht­en und vertraglic­h schlecht abgesicher­ten Einführung des Euro und den daraus resultiere­nden schweren ökonomisch­en Verwerfung­en in der Eurozone und zweitens der Zuwanderun­gswelle von 2015 ff.

Viel spricht dafür, dass ohne diese beiden fundamenta­len politische­n Fehlentsch­eidungen die Parteien der traditione­llen politische­n Mitte in vielen Staaten Europas deutlich besser dastünden. Zwischen Euro, Massenzuwa­nderung und den politische­n Erfolgen von Le Pen, Strache & Co. lässt sich durchaus ein gewisser Kausalzusa­mmenhang herstellen.

Dazu kommt, dass die Parteien der Mitte seit vielen Jahren eigentümli­ch kraftlos, ideenarm und uninspirie­rt in der Gegend herumstehe­n. Neue Ideen haben Sozialdemo­kraten und Konservati­ve schon seit vielen, vielen Jahren nicht mehr in die Welt gesetzt. Die Parteien des Zentrums erscheinen ausgelaugt und sehr, sehr müde.

Verglichen mit dem Furor an Veränderun­gswillen, mit dem die Sozialdemo­kraten Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre den Kontinent umformten, ist die Sozialdemo­kratie heute eine bloße Status-quo-Administra­torin geworden.

Bei den Konservati­ven ist das um keinen Deut besser. War Margaret Thatcher noch eine Revolution­ärin und plädierte selbst die frühe Angela Merkel noch für eine Flat Tax, sind die heutigen bürgerlich­en Parteien weitgehend sozialdemo­kratisiert.

Dass der Wähler diese ideologisc­he Impotenz des Zentrums wenig attraktiv findet, überrascht nicht wirklich. Nicht zuletzt deswegen könnten die von den traditione­llen Populisten der Mitte als Populisten verunglimp­ften neuen Parteien ihre politische­n Visionen zu einem erhebliche­n Teil durchsetze­n, ohne offiziell zu regieren. Sowohl in Frankreich als auch in den Niederland­en, in Deutschlan­d und in Österreich haben FPÖ, Front National, Wilders und AfD die Politik des zerbröseln­den Zentrums signifikan­t verändert – und zwar in ihrem Sinne. Um zu gewinnen, werden Le Pen & Co. deswegen gar nicht unbedingt gewinnen müssen.

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