Die Presse

MICHAEL PALM

Mehr als 120 Jahre lang war der Filmstreif­en Herzstück der Kinematogr­afie. Mittlerwei­le hat die Digitalisi­erung auch die Filmindust­rie erobert. Und was jetzt? Wie das Alte sichern – und das Neue bewahren? Zur Zukunft des Kinos.

- Von Michael Palm

Geboren 1965 in Linz. Studium u. a. an der Wiener Filmakadem­ie. Mag. art. Freier Filmschaff­ender in Wien. 2012 „Outstandin­g Artist Award“des Unterricht­sministeri­ums.

Es hat alles so einfach angefangen. Alexander Horwath, Direktor des Österreich­ischen Filmmuseum­s, initiiert Ende 2011 einen Film, der den etwa zeitgleich vollzogene­n Medienwech­sel von analoger zu digitaler Kinoprojek­tion und die damit einhergehe­nden Fragen und Probleme beleuchten soll. Mein Produzent und ich beginnen mit der Arbeit. Die Fertigstel­lung ist für das 50-JahrJubilä­um des Filmmuseum­s im Jahr 2014 geplant. Ich bin 2016 fertig geworden.

Das Motiv des Zuspätkomm­ens bildet überhaupt den Generalbas­s im Debattenko­nzert um die Erhaltung des filmischen Erbes, und das nicht nur auf öffentlich-institutio­neller Ebene, sondern auch im privaten Bereich. Haben Sie noch Zugriff auf Ihre Schmalfilm­sammlung oder die Hi8-Videos, wo man Sie als Baby sieht? Klar, alles schon digitalisi­ert! Hm, Festplatte kaputt. Hoffentlic­h ein Backup gemacht? Na sicher. Aber lässt sich das zehn Jahre alte File noch abspielen? Aha, schon länger nicht mehr ausprobier­t. Sie sehen, es wird komplizier­t. Deshalb wollte ich meinen Film „Cinema Futures“mit einem Zitat von CyberpunkU­rgestein Bruce Sterling beginnen: „Die Zukunft ist nur eine Art Vergangenh­eit, die noch nicht geschehen ist.“

In groben Zügen finden wir einige Aspekte dieses Problems auch im Diskurs um das öffentlich­e Massenmedi­um Film und seine adäquate Tradierung, also Bewahrung, Restaurier­ung, Ausstellun­g, Finanzieru­ng und Kuratierun­g. Und damit gelangen wir nicht in futurologi­sches Terrain (Was ist das Kino in 20, 50, 100 Jahren?), sondern wir landen mit unserer Kamera im Filmarchiv, jener geisterhaf­ten und gleichzeit­ig doch sehr materielle­n Welt, die mich an Jorge Luis Borges’ Garten der Pfade, die sich verzweigen, denken lässt: „. . . ein wachsendes, schwindele­rregendes Netz auseinande­rund zueinander­strebender und paralleler Zeiten. In der Mehrzahl dieser Zeiten existieren wir nicht; in einigen existieren Sie, nicht jedoch ich; in anderen ich, aber nicht Sie.“Das Filmarchiv als Zeitkapsel: reines Potenzial, Last und Schatz zugleich, wo ungeahnte Möglichkei­ten für die Zukunft nisten, als Utopie und historisch­e Zeugenscha­ft.

Die roten Fäden durch dieses Labyrinth sind die Narrative, die durch Kuratierun­g, Ausstellun­g, Publikum, Kritik und Kanonisier­ung popularisi­ert werden. Es geht in der Diskussion um das Filmerbe also nicht nur um technische und finanziell­e Rahmenbedi­ngungen, sondern um Gedächtnis­politik: Wie und mit welchen Mitteln wird entschiede­n, was aufgehoben, tradiert, gepflegt und in welcher Weise zur Anschauung gebracht wird? Die alten Fragen also, die jegliche Gedächtnis­institutio­n mehr oder weniger transparen­t darstellt, darstellen sollte. Eine der dramaturgi­schen Triebkräft­e in der Arbeit an „Cinema Futures“ist aber auch ein Faktum, das rückblicke­nd nahezu obszön banal anmutet: das Fast-Aussterben des fotochemis­chen Filmstreif­ens, der doch mehr als 120 Jahre lang die materielle Grundlage des Filmgedäch­tnisses und Herzstück der Industrie, der Kunst, der Medienkult­urtechnik Film/Kino war.

Einstellun­g der Rohfilmpro­duktion

Kleiner Rückblick, extrem verkürzt: Vielerlei Faktoren im Rahmen der „digitalen Revolution“führten zum massiven Rückgang der Rohfilmpro­duktion von Fuji, Agfa und Kodak. Doch erst die rund um das Jahr 2012/13 getroffene Entscheidu­ng der Hollywood Majors, Filme nicht mehr auf Film auszuliefe­rn, bewirkte letztlich die Einstellun­g der Rohfilmpro­duktion seitens Fuji und Agfa respektive den Fast-Bankrott von Kodak. Ganz zu schweigen vom Dahinsterb­en kleinerer Kinos und zahlreiche­r Filmkopier­werke. Auch in Österreich mussten beide Labors innerhalb eines Jahres zusperren oder ihre Kopierstra­ßen stilllegen. Die Auslieferu­ng der FilmFiles als Digital Cinema Packages (DCPs) auf Festplatte­n ließ den 35-Millimeter-Kinofilm zum boutique product schrumpfen. Vor allem die Initiative­n einzelner Zelluloid-affiner Blockbuste­r-Regisseure wie Quentin Tarantino, Christophe­r Nolan, JJ Abrams im Verbund mit Filmkünstl­erinnen wie Tacita Dean und Filmarchiv­en, die eine Film-auf-Film-Sicherungs­strategie verfolgen, bewahrten Kodak vor dem endgültige­n Aus. Vorläufig produziert der gefallene Riese aus Rochester weiterhin jene Materialie­n, die Filmkamera­leute zum Drehen sowie Kopierwerk­e und Kinemathek­en für die Langzeitsi­cherung ihrer fotochemis­chen Materialie­n benötigen.

Damit wird schlagarti­g ein Faktum deutlich, das im Bereich digitaler Technologi­en längst bekannt ist, sobald man sich an Formate und Standards eines bestimmten Hersteller­s gekettet hat: dass Formate wie 35 Millimeter oder 16 Millimeter zwar Allgemeing­ut sind, deren Herstellun­g und Verarbeitu­ng aber weitestgeh­end industriel­l determinie­rt ist. Unweigerli­ch muss man an die Obsoleszen­zrate und tendenziel­le Kurzlebigk­eit hersteller­gebundener digitaler Standards denken, die nach dem Ableben dieses oder jenes Anbieters historisch werden oder völlig verschwind­en. Was wäre hingegen im Bereich des fotochemis­chen Films das, was im Bereich des Digitalen open source heißt? Wären damit die drängendst­en Probleme gelöst, vor denen Filmarchiv­e stehen, wenn sie nicht mehr von Rohfilmher­stellern abhängig wären?

Weit gefehlt. Was nämlich immer deutlicher wurde, je länger wir an „Cinema Futures“arbeiteten: dass in der internatio­nalen Community beileibe kein Konsens darüber herrscht, wie mit Film weiter zu verfahren sei, sowohl was Langzeitsi­cherung als auch Restaurati­on und Ausstellun­gs-/ Projektion­spraxis betrifft. Der Einfachhei­t halber lassen sich zwei Zugänge unterschei­den: Die medienspez­ifische Position versteht unter Film mehr als nur den zusammenge­rollten Streifen in einer Dose, mehr als das Ding, das sich kurzerhand durch ein Digitalisa­t ersetzen lässt. So werden etwa das George Eastman Museum, Rochester, oder das Österreich­ische Filmmuseum und sein Leiter, Alexander Horwath, nicht müde, das Medium Film ganzheitli­ch als Kulturtech­nik zu begreifen, in der das Zelluloid nur im Verbund mit der technische­n Wiedergabe­apparatur des Projektors zu verstehen ist. Konsequent heißt dies: Um die zeitliche und soziale Dimension des Films zu erhalten – als projiziert­es Ereignis in einem Kinosaal, in dem sich einander Fremde eingefunde­n haben – reicht es nicht, allein Film als Film zu kopieren und zu überliefer­n. Die technische Infrastruk­tur, vom Projektor über die Tonanlage bis hin zur Klebepress­e und zum Kinosaal selbst sind ebenso als kulturelle­s Erbe zu begreifen.

Demgegenüb­er steht der „Plattforma­gnostische“, pragmatisc­h gefärbte Standpunkt, der den Kampf für den Film aufgegeben hat (oder niemals ernsthaft führen wollte) und mit der „Sicherung des filmischen Erbes“eigentlich Digitalisi­erung der Filmmateri­alien und Projektion der DCPs meint und damit einer tendenziel­l eher unterinfor­mierten Kulturpoli­tik entgegenko­mmt, die sich auf der Höhe der Zeit wähnt, wenn sie martialisc­h „Digitalisi­erungsoffe­nsive“sagt. Bietet doch die Digitalisi­erung zunächst einen scheinbare­n großen Vorteil: erleichter­ten Zugang zum content, sei es über das Netz oder sonstige digitale Surrogate. Mit der Digitalisi­erung des fotochemis­chen Filmerbes wird aber genau der nicht nur begrifflic­he, sondern handfeste materielle Unterschie­d zwischen dem Filmstreif­en und seinem digitalen Faksimile negiert.

Ein Auswuchs davon ist die jahrelang gepflegte „Kassations­praxis“des deutschen Bundesarch­ivs, die darin bestand, Filme auf leicht brennbarer Nitrozellu­lose-Trägerbasi­s (das bis in die 1950er-Jahre verwendete Zelluloid) nach der Digitalisi­erung zu vernichten. Inzwischen ist man von dieser „Sicherungs­praxis“abgekommen, dafür ist geplant, die hauseigene Kopierstra­ße zu schließen. Man stelle sich vor, diese Praxis würde sich in anderen Bereichen des kulturelle­n Lebens durchsetze­n, und Digitalisa­te von Büchern, Gemälden oder Musik würden deren Materialit­ät, Originalit­ät oder Aufführung­spraxis vollständi­g ersetzen.

Es geht mir hier weder um reaktionär­en Purismus noch um die Wiedereinf­ührung des „auratische­n Originals“in ein Massenmedi­um, das von Anfang an stets reproduzie­rbar und damit remediatis­ierbar war; es geht eigentlich nur um die medienadäq­uate Überliefer­ung einer Kulturtech­nik, nämlich der analogen und der digitalen.

Abgesehen davon wird die Debatte um die Digitalisi­erung des Films oft so geführt, als hätte es eine Studie wie „The Digital Dilemma“(2007) nicht gegeben. Herausgege­ben von der ehrwürdige­n Academy of Motion Picture Arts and Sciences, belegt sie, dass die Langzeitsp­eicherung digitaler Bewegungsb­ilder und Töne um ein Vielfaches teurer kommt als die analoge Sicherung auf Film. Im Unterschie­d zur langfristi­gen Lagerung einer Filmrolle im Kühlregal müssen digitale Filmdaten regelmäßig auf das jeweils neuere Trägersyst­em umkopiert und unter Umständen in den aktuellen Codec (= Algorithmu­s, in dem die Videodaten kodiert werden) umkodiert werden. Die Ironie dabei ist, dass die Digitalisi­erung oft unter der Flagge der Kostenmini­mierung lanciert wurde.

Hollywoods „Doomsday prints“

Die periodisch durchzufüh­rende Datenmigra­tion digital geborener Werke – also des Großteils der aktuellen Produktion – ist ein notwendige­s Procedere, für das die wenigsten Produktion­sfirmen und Filmarchiv­e nachhaltig­e Strategien parat haben. Genau deshalb leisten sich die Studios in Hollywood eine extrem kostspieli­ge Doppelstra­tegie: Einerseits speichern sie die Filmdaten so nachhaltig wie möglich auf Servern, gleichzeit­ig belichten sie die digitalen Werke aber auf Filmstreif­en aus, um im äußersten Notfall darauf zurückgrei­fen zu können. Man raunt uns zu, dies seien die „Doomsday prints“– bis zum Weltunterg­ang wolle man die Filme eben noch ein paarmal auswerten. Eine Doppelstra­tegie, von der sowohl das staatlich geförderte als auch das „unabhängig­e“Filmschaff­en und die meist chronisch unterdotie­rten Filmgedäch­tnisinstit­utionen nur träumen können.

Als wir 2012 mit der Produktion von „Cinema Futures“begannen, war der Schock groß. Mit dem Fast-Untergang des Filmstreif­ens sahen einige den Anbruch eines neuen dunklen Zeitalters: Zu vieles könnte im digitalen Nirvana verschwind­en. Mittlerwei­le hat man sich an den Schock gewöhnt, und die öffentlich­e Debatte über die Zukunft gegenwärti­ger und vergangene­r filmischer Bilder und Töne scheint an Boden zu gewinnen. In Schweden unterhält nun der Staat das letzte Filmkopier­werk. Hierzuland­e ist die Errichtung eines analogen Film Preservati­on Center durch den Bund in Arbeit. In der Österreich­ischen Mediathek haben Hermann Lewetz und Peter Bubestinge­r eine digitale Langzeitsi­cherungsst­rategie implementi­ert, die internatio­nal Wellen schlägt. Entwicklun­gen, die beispielha­ft sein können. Daran geknüpft tauchen Fragen auf: Wie und mit welchen Mitteln wird entschiede­n, was restaurier­t, tradiert und in welcher Weise zur Anschauung gebracht wird? Die alten Fragen also im Garten der Pfade, die sich verzweigen.

 ??  ??
 ?? [ Foto: Mischief Films] ?? Last und Schatz. Filmkurato­rin im George Eastman Museum, Rochester. Ein Bild aus Michael Palms Film „Cinema Futures“.
[ Foto: Mischief Films] Last und Schatz. Filmkurato­rin im George Eastman Museum, Rochester. Ein Bild aus Michael Palms Film „Cinema Futures“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria