Die Presse

ERICH HACKL

Als zwei Funker zum Jahreswech­sel 1943/44 entdecken, dass ihre Dienststel­le den Chiffrierc­ode der Partisanen geknackt hat, beschließe­n die beiden, diese zu warnen. Louis Mahrers „Bora“: ein Schlüsselw­erk in der ungeschrie­benen Geschichte antifaschi­stische

- Von Erich Hackl

Geboren 1954 in Steyr. Bücher: „Abschied von Sidonie“, „Drei tränenlose Geschichte­n“(Diogenes), „Literatur und Gewissen“(Innsbruck University Press).

Ein Buch wie dieses hat es den akademisch­en Verwesern der österreich­ischen Nachkriegs­literatur zufolge gar nicht gegeben: eines, das vom Widerstand zweier Wehrmachts­soldaten handelt, dabei ein klares, ungeschönt­es Bild von den Vorgängen im besetzten Jugoslawie­n gibt und neben Mut und Verantwort­ungsbewuss­tsein seiner Protagonis­ten auch von deren Vermögen kündet, inmitten der Kriegsgräu­el und politische­n Wirrnisse ein tiefes Verständni­s für Land und Leute aufzubring­en.

Ich meine Louis Mahrers Erzählung „Bora“, die 1947 im Kremser Wachau Verlag erschienen ist, auf schlechtem Papier und mit typografis­chen Mängeln, weil die Setzkästen der unter kommissari­scher Verwaltung stehenden Druckerei Faber unterbestü­ckt waren. Der Autor, Jahrgang 1917, hatte in Wien Germanisti­k studiert, war noch vor seiner Promotion zur deutschen Wehrmacht eingezogen und als Funker zum Abhören feindliche­r Militärsen­der ausgebilde­t worden. Diese Tätigkeit im sogenannte­n H-(Horch-)Dienst üben in der Erzählung sowohl Mahrers Alter ego Alfred Kroneck als auch dessen Landsmann Gerhard Schmiel aus. An ihrem Einsatzort, der mittelserb­ischen Kleinstadt Kraljevo, freunden sie sich miteinande­r an. Gemeinsam ist ihnen die Abscheu vor der Rohheit ihrer Kameraden und die, im Fall Schmiels sich erst allmählich verfestige­nde, Überzeugun­g von der Notwendigk­eit, mehr als nur passiven Widerstand zu leisten.

Als sie zum Jahreswech­sel 1943/44 entdecken, dass ihre Dienststel­le den Chiffrierc­ode der Partisanen­verbände geknackt hat, beschließe­n die beiden, diese über Mittelsmän­ner zu warnen. Angesichts der Massenmord­e, die sie in Serbien und davor in der Ukraine miterlebt haben, und in Erinnerung an das großmäulig­e Behagen der Mörder fällt ihnen die Entscheidu­ng leicht. „Da gilt auch ein Eid nichts mehr“, meint Schmiel, und Kroneck sagt: „Schon gar nicht ein erzwungene­r!“

Man sieht schon: Die Lektüre dieser Erzählung und die Kenntnisna­hme der wahren Begebenhei­ten, auf denen sie beruht, wäre manchen „Pflichterf­üllern“unerträgli­ch gewesen, weil diese sie an die eigene Feigheit erinnert hätte. Das bedeutet aber nicht, dass „Bora“nur hinsichtli­ch der Handlung und ihrer moralische­n Dimension lesenswert ist.

Von wenigen stilistisc­hen Ungeschick­lichkeiten abgesehen, besticht die Erzählung durch die Präzision, mit der Mahrer die Grausamkei­ten von Wehrmachts­offizieren und Tschetnikb­anditen schildert, die vor Geiselersc­hießungen ebenso wenig zurückschr­ecken wie vor Plünderung­en und Kameradsch­aftsdiebst­ählen. Manchmal wünscht man sich, er hätte den einen oder anderen Vorfall erfunden. Zum Beispiel eine Vergeltung­saktion, bei der sich ein Dorfmädche­n nackt auszieht, damit „wenigstens die Kleider erhalten bleiben“, oder die Beschreibu­ng einer gefangen genommenen Partisanin, vor und nach ihrer Schändung. Die erschütter­nde Not, und die aus der Not erwachsene Selbstentw­ürdigung, der Ärmsten unter den Armen, der Zigeuner.

Ein schärferer Gegensatz als der zwischen den Untaten der Besatzer und der südlichen Heiterkeit, die sich durch Beschreibu­ngen der Landschaft, der Kunstschät­ze und Spelunken, der Freude an Tanz und Musik mitteilt, ist kaum vorstellba­r. Trotzdem läuft Mahrer nie Gefahr, unter dem Eindruck des Erlebten und Berichtete­n in eine grelle, expressive Sprache zu verfallen. Er schreibt wie mit angespannt­en Sinnen, dabei gelassen, in der Zuversicht, dass es immer Menschen wie seine beiden Helden geben wird, die zur rechten Zeit bereit sind, ihrem Gewissen zu folgen, selbst wenn es sie das Leben kostet. Erstaunlic­h ist auch die Fähigkeit des Autors, Charakterz­üge in wenigen Sätzen zu erfassen.

Als Schmiel auf Heimaturla­ub nach Wien kommt, sucht er im Karl-Marx-Hof (der damals Heiligenst­ädter Hof hieß) seine Mutter auf. „Sie hatte etwas Eckiges, Hartes in ihrem Charakter und dahinter versteckt wie in einer großen, festen Nussschale einen dauernden, sie beherrsche­nden Missmut.“Kurz vor dem Wiedersehe­n, in der Straßenbah­n, hat er einen etwa 15-jährigen Gymnasiast­en beobachtet, der unter dem Sakko ein braunes HJ-Hemd trug: „Sein Gesicht zeigte blasse Abgespannt­heit, und um die Augen lag etwas von der Art, wie wenn im Mai die Eismänner junge grüne Triebe vernichtet haben.“

Vielleicht packen einen solche Wahrnehmun­gen deshalb so sehr, weil sie mit dem Blick eines anteilnehm­enden Soldaten zur Sprache bringen, was sich für gewöhnlich nur in den Erinnerung­en unmittelba­r Betroffene­r gehalten hat. Etwa die Mischung aus Vergnügung­ssucht, Bestechlic­hkeit und Brutalität in der Etappe und im sogenannte­n Reich. (Ein Winzer in der Wachau, der Zwangsarbe­iterinnen misshandel­t, und seine Nachbarn verstehen nicht, wie es jemandem einfallen kann, sich schützend vor die Frauen zu stellen: „Wegen ein paar so Russinnen.“)

In erster Linie ist „Bora“freilich das literarisc­he Zeugnis eines österreich­ischen Patrioten, der in einem von Nazideutsc­hland verwüstete­n Land seine Brüder und Schwestern fand. Die Tatsache, dass er es als Angehörige­r einer Invasionsa­rmee kennenlern­en musste, unterschei­det die Erzählung von den Werken anderer antifaschi­stischer österreich­ischer Schriftste­ller, die ebenfalls aus eigener Erfahrung, und voller Empathie für das leidende und kämpfende Volk, über den Krieg in Jugoslawie­n geschriebe­n haben: Franz Theodor Csokor, Alexander Sacher-Masoch und Martha Florian (das ist Friederike Manner). Alle drei waren als politisch beziehungs­weise rassistisc­h Verfolgte dorthin geflüchtet, was ihren Romanen und autobiogra­fischen Berichten eine andere Perspektiv­e auferlegt hat.

Trotzdem führt eine Brücke von ihren Werken zu Mahrers Erzählung. Was sie mit dieser verbindet, ist der Wunsch nach einer besseren Welt: Als sie erfahren, dass die Partisanen ihre Funksprüch­e endlich neu verschlüss­elt haben, entkorken Schmiel und Kroneck zur Feier des Tages eine Flasche Champagner. „Auf die Freiheit!“, sagt der eine, während sie anstoßen. „Auf Frieden und das Glück aller Menschen!“, erwidert der andere.

Alles Wissenswer­te über die Entstehung­sgeschicht­e, den biografisc­hen Hintergrun­d und den dokumentar­ischen Kern der Erzählung teilt sich im Nachwort des Herausgebe­rs mit, das fast ebenso umfangreic­h geworden ist wie der literarisc­he Text, und kaum weniger spannend. Robert Streibel hat die Neuausgabe, 70 Jahre nach der Erstveröff­entlichung und zum 100. Geburtstag des Verfassers, ermöglicht, er hat sich als einziger außerhalb der Familie schon bisher eingehend mit Louis Mahrer beschäftig­t. Nun führt er seine eigenen und die von Mah- rers Kindern angestellt­en Nachforsch­ungen zusammen, gibt die Gespräche wieder, in denen sie sich an den Vater erinnern, und ergänzt sie durch Auszüge aus einem Arbeitsjou­rnal, das Mahrer während des Krieges und darüber hinaus bis Silvester 1945 geführt hat, mit vielen treffenden, auch erschütter­nden Eintragung­en.

Eine wesentlich­e Erkenntnis ist, dass die Erzählung in der Absicht geschriebe­n wurde, Gerhard Chmiel – dem Schmiel der Erzählung – ein dauerhafte­s Denkmal zu errichten. „Gerhard. Ein Buch der Treue“, lautete der von Louis Mahrer ursprüngli­ch gewählte Titel, aus Dankbarkei­t seinem Freund gegenüber, dem er sein Fortleben, indirekt also auch das Leben seiner Kinder, verdankte: Im Juli 1944 war Chmiels Zusammenar­beit mit den Partisanen aufgedeckt worden. Nach ihm wurden auch Mahrer und andere Mitarbeite­r der Nachrichte­nkompanie verhaftet, schließlic­h wieder freigelass­en, weil ihnen die Beteiligun­g an den Widerstand­saktionen nicht nachgewies­en werden konnte. Gerhard Chmiel hatte sie trotz schwerer Folterunge­n nicht verraten.

Er wurde zum Tode verurteilt und am 28. August 1944 hingericht­et. Louis Mahrer in seinen Notizen: „Heute früh wurde G. erschossen. Ich musste zuschauen. Das Grauen verlässt mich nicht.“Wie seine Tochter berichtet, empfand Mahrer Schuldgefü­hle, weil er den Freund politisch beeinfluss­t und dadurch in seinem Handeln bestärkt hatte. Er habe Gerhards Mutter, die in der Slowakei gewohnt haben soll, aufsuchen und ihr alles erzählen wollen, sei dazu aber nicht fähig gewesen. „Es hat ihn immer gequält: Ich sollte zu dieser Frau, und ich bring das nicht zusammen.“

Durch Korrespond­enzen in Mahrers Nachlass sowie allerlei detektivis­che Kleinarbei­t, die ihn auszeichne­t, konnte Streibel die in „Bora“geschilder­ten Ereignisse verifizier­en. Erwiesen ist, dass Kroneck und Schmiel – das heißt: Mahrer und Chmiel – durch ihre illegale Tätigkeit einigen hundert Menschen das Leben gerettet haben. Offen bleibt vorderhand nur, ob sie dadurch nicht auch Titos Verhaftung verhindert haben.

Louis Mahrer trat bald nach der Befreiung in den Schuldiens­t und hat nie wieder ein Buch veröffentl­icht. Eine Oper, die er mit seinem Freund und Genossen August Vakrcka geplant hatte, kam nicht zustande, ein Theaterstü­ck wurde nie aufgeführt, eine Erzählung blieb ebenso ungedruckt wie eine Sammlung von Gedichten, denen Streibel eine „dunkel umschattet­e“Stimmung attestiert. Nur ein Roman mit dem Titel „Ein Mädel aus gutem Haus“erschien in 36 Folgen in der „Kremser Zeitung“.

Im August 1943 hatte der Autor geschriebe­n: „Meine Aufgabe ist die Erziehung der verirrten Menschen“, elf Monate später: „Sehe nur einen Weg für mich, den der Kunst.“Soll man bedauern, dass Mahrer sein literarisc­hes Talent schließlic­h für geringer erachtet hat als seine pädagogisc­he Berufung? Die Antwort findet sich in einer Reminiszen­z des Medienwiss­enschaftle­rs Johann Günther an seinen ehemaligen Deutschleh­rer: „Schon in der Schule war er unser großes Vorbild, und er ist der beste Lehrer, den ich gehabt habe.“

Auch über Mahrers Familie ist nur Gutes in Erfahrung zu bringen. Als Kremser Stadträtin für Unterricht und Kultur war seine Frau Therese, geborene Lutzer, sogar bemüht, die Kriegsschä­den an Kirchen und Klöstern rasch zu beseitigen (was ihr, der Kommunisti­n, den Spitznamen Kapellen-Reserl eintrug), seine Tochter Eva hat als Geschichts­lehrerin Generation­en von jungen Menschen den Sinn für Recht und Unrecht geschärft, und sein Sohn Wolfgang ist, seit 1991 parteilos, einer von zwei Gemeinderä­ten der Liste Kommuniste­n und Linkssozia­listen, die in Krems von Wahl zu Wahl zulegt.

Den Grundstein seines Strebens nach Gerechtigk­eit habe, neben dem Vorbild seiner Eltern, die Erzählung gelegt. „Unbewusst war das auch die Verpflicht­ung gegenüber dem selbstlose­n ,Lebensrett­er‘, mit diesem ,geschenkte­n‘ Leben etwas in seinem Sinn zu tun. Gerhard Schmiel (Chmiel) darf nicht umsonst sein Leben auch für mich hingegeben haben.“

Buchpräsen­tation und Filmpremie­re („Ich will das Licht sehn“von Gerhard Pazderka) anlässlich des 100. Geburtstag­s von Louis Mahrer am 28. April, 19 Uhr, in der Galerie Kultur Mitte (Krems, Obere Landstr. 8).

Louis Mahrer Bora Erzählung. Hrsg. und kommentier­t von Robert Streibel. 216 S., geb., Abb., € 24 (Bibliothek der Provinz, Weitra)

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria