Mays Metamorphosen
Vom Schriftsteller über den Pseudo-Reiseschriftsteller zum Dichter des Spätwerks: Notizen zum 175. Geburtstag von Karl May.
Nun erst recht ein Rechter“, stellte Heinrich Mann fest, als er hörte, Karl Mays Reiseerzählungen seien frei erfunden: Dieser berichtet, so weiß jener nun, nicht über Erlebtes, sondern schreibt, grob gesagt, Erfundenes nieder: eben ein Dichter.
Im Detail bedeutet dies, dass er wie ein Romanschriftsteller auch recherchierte. Im Zuge seiner Ausbildung als Lehrer war ihm unter anderem Folgendes vermittelt worden: Geschichte, Geografie, Naturgeschichte. Quellenkenntnis verraten zahlreiche Passagen in seinen Erzählungen, die freilich so zutreffend sind – oder nicht – wie seine Quellen beziehungsweise wie May sie verstehen konnte.
Dazu kam noch seine Verwertung einschlägiger Belletristik. So hat May eine Reihe von Berichten über tatsächliche Reisen wie über den Yellowstone-Park von HesseWartegg oder über Zustände in Missouri von Friedrich Münch wortwörtlich übernommen.
Bei wem nahm May Anleihen für seine Personen? Nach seiner eigenen Aussage entspricht Murad Nassyrs Schwester in „Mahdi“einem „Bayerfelder Mäuschen“aus seinem sächsischen Umfeld. Seine Haupthelden hingegen sind Konstruktionen eines Tapferen und Klugen. Auch schuf Mays Fantasie die kuriosesten Gestalten: beispielsweise im Wilden Westen Sam Hawkins (skalpiert) und SansEar (abgeschnittene Ohren).
Verschiedene Ich-Figuren
Zieht man eine Bilanz zu Mays Schaffen vor dem Start der Buchreihe der bekannten grünen Bände bei Fehsenfeld, so stellt es sich sehr bunt und unterschiedlich dar: eben ein Dichter nach Heinrich Mann. Er lässt verschiedene IchFiguren auftreten: mehrere Nationalitäten wie Deutsche, Franzosen, Yankees, mit abweichenden Berufen wie Arzt, Sammler und Gelehrter, Jäger im Wilden Westen, hier auch Bahnangestellter, einfach Weltläufer-Globetrotter.
In zwei Spielarten betritt das Ich-Greenhorn den Wilden Westen, sechs Varianten beschreiben dessen erste Zusammenkunft mit Winnetou. Immer wieder zeigt sich der seinen Stoff variierende und modifizierende Dichter.
Textgeschichtlich wirkten sich fortschreitende Inhaltsharmonisierungen als Zerstörung von Mays buntem Dichterwerk aus. Aus ursprünglichen „Reiseromanen“wurden „Reiseerzählungen“, das Greenhorn betrat natürlich nur einmal den Wilden Westen, Winnetou begegnet es nur einmal zum ersten Mal usw., usw.
So erschien May vordergründig als ein über ein einziges Ich (über sich?) berichtender Reiseschriftsteller. Als Entwicklungsbiografie kurz charakterisiert: vom Schriftsteller über den Pseudo-Reiseschriftsteller zum „allegorischen“Dichter seines Spätwerkes.
Berühmt machte May allerdings die „Reiseschriftsteller “Periode. Aber selbst diese verzerren besonders in unserer Gegenwart Filme, Freilichtbühnen, Kabaretts nahezu bis zur Unkenntlichkeit. Erstere erfanden und erfinden immer wieder Handlungen, die May – mit ganz geringen Ausnahmen – so nie schrieb, und dies alles nahezu ohne dessen Poesie, dafür mit umso mehr Theatralik.
Das Bild des fabulierenden Dichters aber lässt sich kaum mehr erkennen – zum Schaden für Karl Mays Werk.