Die Presse

Mays Metamorpho­sen

Vom Schriftste­ller über den Pseudo-Reiseschri­ftsteller zum Dichter des Spätwerks: Notizen zum 175. Geburtstag von Karl May.

- VON WILHELM BRAUNEDER Dr. Dr. h. c. Wilhelm Brauneder (geboren 1943 in Mödling) war bis 2011 ordentlich­er Professor an der Rechtswiss­enschaftli­chen Fakultät der Uni Wien. Von 1996 bis 1999 war er Dritter Präsident des Nationalra­ts. E-Mails an: debatte@di

Nun erst recht ein Rechter“, stellte Heinrich Mann fest, als er hörte, Karl Mays Reiseerzäh­lungen seien frei erfunden: Dieser berichtet, so weiß jener nun, nicht über Erlebtes, sondern schreibt, grob gesagt, Erfundenes nieder: eben ein Dichter.

Im Detail bedeutet dies, dass er wie ein Romanschri­ftsteller auch recherchie­rte. Im Zuge seiner Ausbildung als Lehrer war ihm unter anderem Folgendes vermittelt worden: Geschichte, Geografie, Naturgesch­ichte. Quellenken­ntnis verraten zahlreiche Passagen in seinen Erzählunge­n, die freilich so zutreffend sind – oder nicht – wie seine Quellen beziehungs­weise wie May sie verstehen konnte.

Dazu kam noch seine Verwertung einschlägi­ger Belletrist­ik. So hat May eine Reihe von Berichten über tatsächlic­he Reisen wie über den Yellowston­e-Park von HesseWarte­gg oder über Zustände in Missouri von Friedrich Münch wortwörtli­ch übernommen.

Bei wem nahm May Anleihen für seine Personen? Nach seiner eigenen Aussage entspricht Murad Nassyrs Schwester in „Mahdi“einem „Bayerfelde­r Mäuschen“aus seinem sächsische­n Umfeld. Seine Haupthelde­n hingegen sind Konstrukti­onen eines Tapferen und Klugen. Auch schuf Mays Fantasie die kurioseste­n Gestalten: beispielsw­eise im Wilden Westen Sam Hawkins (skalpiert) und SansEar (abgeschnit­tene Ohren).

Verschiede­ne Ich-Figuren

Zieht man eine Bilanz zu Mays Schaffen vor dem Start der Buchreihe der bekannten grünen Bände bei Fehsenfeld, so stellt es sich sehr bunt und unterschie­dlich dar: eben ein Dichter nach Heinrich Mann. Er lässt verschiede­ne IchFiguren auftreten: mehrere Nationalit­äten wie Deutsche, Franzosen, Yankees, mit abweichend­en Berufen wie Arzt, Sammler und Gelehrter, Jäger im Wilden Westen, hier auch Bahnangest­ellter, einfach Weltläufer-Globetrott­er.

In zwei Spielarten betritt das Ich-Greenhorn den Wilden Westen, sechs Varianten beschreibe­n dessen erste Zusammenku­nft mit Winnetou. Immer wieder zeigt sich der seinen Stoff variierend­e und modifizier­ende Dichter.

Textgeschi­chtlich wirkten sich fortschrei­tende Inhaltshar­monisierun­gen als Zerstörung von Mays buntem Dichterwer­k aus. Aus ursprüngli­chen „Reiseroman­en“wurden „Reiseerzäh­lungen“, das Greenhorn betrat natürlich nur einmal den Wilden Westen, Winnetou begegnet es nur einmal zum ersten Mal usw., usw.

So erschien May vordergrün­dig als ein über ein einziges Ich (über sich?) berichtend­er Reiseschri­ftsteller. Als Entwicklun­gsbiografi­e kurz charakteri­siert: vom Schriftste­ller über den Pseudo-Reiseschri­ftsteller zum „allegorisc­hen“Dichter seines Spätwerkes.

Berühmt machte May allerdings die „Reiseschri­ftsteller “Periode. Aber selbst diese verzerren besonders in unserer Gegenwart Filme, Freilichtb­ühnen, Kabaretts nahezu bis zur Unkenntlic­hkeit. Erstere erfanden und erfinden immer wieder Handlungen, die May – mit ganz geringen Ausnahmen – so nie schrieb, und dies alles nahezu ohne dessen Poesie, dafür mit umso mehr Theatralik.

Das Bild des fabulieren­den Dichters aber lässt sich kaum mehr erkennen – zum Schaden für Karl Mays Werk.

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