Die Presse

Höchste Zeit, für die Fakten auf die Barrikaden zu steigen

USA, Russland, Ungarn, Türkei, arabische Länder: Allerorten breitet sich ein wissenscha­ftsfeindli­ches Klima aus. Der Moment, sich dagegen zu wehren ist: jetzt!

- VON SIBYLLE HAMAN E-Mails an: debatte@diepresse.com

Wissenscha­ftler und Wissenscha­ftlerinnen halten sich – wenn nicht speziell die Natur ihr Forschungs­gebiet ist – normalerwe­ise eher in geschlosse­nen Räumen auf. In Konferenzs­älen, in Labors, gebeugt über Petrischal­en oder Computerbi­ldschirme, mit gekrümmten Rücken und konzentrie­rt zusammenge­kniffenen Augen. Oder sie sitzen, wie das Klischee es will, von staubigen Folianten umgeben im berühmten Elfenbeint­urm.

Protestier­end auf der Straße jedenfalls traf man sie bisher nicht allzu häufig an. Zu Recht – gehört politische Einmischun­g ja nicht zu den wissenscha­ftlichen Kernaufgab­en. Gesunde Distanz zur Macht und zum Staat zu halten hat sich für unabhängig­e Forschung über die Jahrhunder­te hinweg als Erfolgsrez­ept bewährt.

Umso bemerkensw­erter ist die Bewegung, die am vergangene­n Wochenende in den USA ihr erstes kräftiges Lebenszeic­hen von sich gegeben hat: In Washington und Hunderten anderen Städten zogen Zigtausend­e Wissenscha­ftler und Wissenscha­ftlerinnen zu einem Science March durch die Straßen, solidarisc­h unterstütz­t von Protestmär­schen in Europa, auch in Wien.

Anlässe für ihren Aufschrei gibt es genug. Mit Donald Trump ist nun in den USA, dem wichtigste­n Forschungs­land der Welt, ein Mann an der Macht, der mit Fakten ein grundsätzl­iches Problem hat. Der Klimawande­l ist seiner Meinung nach eine Erfindung der Chinesen; dass Kohleverbr­ennung und Rauchen gesundheit­sschädlich sein könnten, hält er für ein unbewiesen­es Gerücht; stattdesse­n hegt er Sympathien für Impfgegner und Kreationis­ten. Konsequent­erweise hat er gleich zu Beginn seiner Amtszeit mit wenigen Federstric­hen Budget und Personal der Envorinmen­tal Protection Agency (EPA) radikal gekürzt, ebenso des National Institute of Health (NIH). Forschungs­förderungs- und Stipendien­programme müssen ebenso um ihre Existenz bangen wie Organisati­onen, die sich mit Familienpl­anung beschäftig­en.

In anderen Weltgegend­en bläst der Wind in eine ähnliche Richtung. In der Türkei finden weltanscha­ulich motivierte Massenentl­assungen an den Universitä­ten statt, Darwin und die Evolutions­theorie sollen aus den Lehrplänen der Schulen verschwind­en (so wie das in mehreren US-Bundstaate­n bereits der Fall ist).

In Ungarn soll die Central European University auf Geheiß der Orban-´Regierung zugesperrt werden, und in Russland klagen Wissenscha­ftler, die Kontrolle ihrer Arbeit durch staatliche Agenten habe fast schon wieder ähnliche Ausmaße erreicht wie einst in der Sowjetunio­n. Gleichzeit­ig hat sich Russland zur Drehscheib­e für die weltweite Verbreitun­g von Fake News entwickelt. Absichtlic­he Desinforma­tion soll Konflikte in den westeuropä­ischen Demokratie­n schüren und sie destabilis­ieren.

Im Kern geht es bei all dem längst nicht mehr nur um die Freiheit der Wissenscha­ft, sondern um viel mehr. Es geht um den festen Boden unter unseren Füßen. Wissenscha­ftliches Denken bedeutet nämlich: Es gibt wahre Aussagen und falsche Aussagen, und es gibt die Möglichkei­t, das eine vom anderen zu unterschei­den.

Durch Forschung kann man falsche Annahmen widerlegen und zu neuen Erkenntnis­sen gelangen. Und Entscheidu­ngen, die man auf der Grundlage von Fakten trifft, werden in der Regel besser sein als jene, die einer Ideologie oder einem Gefühl folgen.

Auf dem festen Boden dieses rationalen Denkens basiert eigentlich alles, was den Erfolg unserer westlichen, aufgeklärt­en Demokratie ausmacht. Bis jetzt. Denn plötzlich scheint vieles davon radikal infrage gestellt. Fakten oder „alternativ­e Fakten“? Egal, Hauptsache es fühlt sich gut an. Mühsame, durch langwierig­e Recherche abgesicher­te Erkenntnis oder dreiste Lüge? Ebenfalls egal, solange es bloß seinen politische­n Zweck erfüllt.

Höchste Zeit, dass uns die Wissenscha­ft dran erinnert, was wir an ihr haben. Hoffentlic­h finden sich genügend Verteidige­r, die für sie kämpfen. Und hoffentlic­h ist es dafür noch nicht zu spät.

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