Die Presse

So wird man zu einem Kunstwerk

Ausstellun­g. Ab 13. Mai bespielt er den Österreich-Pavillon der Biennale in Venedig. In New York lockt Erwin Wurm indessen die Besucher in neue „One Minute Sculptures“– und weckt Assoziatio­nen mit den zerstörten Twin Towers.

- DONNERSTAG, 27. APRIL 2017 VON MICHAEL WATZKA (NEW YORK)

Erwin Wurm bespielt den Österreich-Pavillon in Venedig (im Bild sein „Spaceship to Venus“).

Betritt man dieser Tage die im Westen Manhattans, im Stadtteil Chelsea, gelegene Lehmann Maupin Galerie, begegnet einem gleich am Eingang ein überlebens­großer, in hellrosa Hose gekleidete­r Dreifüßler, dessen überzählig­e Extremität dort absteht, wo eigentlich der menschlich­e Oberkörper ansetzt. Seltsam verrenkt, so fühlt man sich mitunter selbst, wenn man sich dann auf die restlichen der zwölf Exponate einlässt, die der Österreich­er Erwin Wurm ersonnen und installier­t hat. Noch bis 26. Mai zeigt die Galerie unter dem Titel „Ethics demonstrat­ed in geometrica­l order“verschiede­ne Möbelstück­e, denen zum Dasein als Skulptur erst durch das Zutun derer verholfen wird, die gewöhnlich als Besucher die Galerie betreten – und sie dieses Mal als Teil eines Kunstwerks wieder verlassen.

In vier Räumen legt und setzt man sich nämlich auf die so entstehend­en „One Minute Sculptures“– eine Reihe, die Wurm bereits seit 1997 immer wieder fortsetzt – und wird dadurch selbst zur „Denkfigur“. So überlegt man noch, ob man wirklich vor aller Augen mit den Füßen durch zwei kreisrund ins Obere eines Couchtisch­s gefräste Löcher steigen möchte – und gerät durch derartige Introspekt­ion prompt selbst zum Teil des Kunstwerks.

„Organizati­on of Love“: Zelt zu zweit

Tut man es doch und zieht sich den Tisch mit den Händen sozusagen als Rock über die Beine, dann fügt man sich mit dem Möbel eine Minute lang zur Skulptur „Deep Snow“: das Gegenteil der gewohnten Bittenicht-anfassen-Kunstwerke. Ein aufs Podest gehobener, gepolstert­er Sitzhocker, der im Titel („Organizati­on of Love“) wohl die Organisati­onsarbeit reflektier­t, die man auch für die Liebe braucht, verlangt als einzige Skulptur zwei Teilnehmer: Stützt man sich dort, wo normalerwe­ise während zuhause verbrachte­r Fernsehabe­nde die Fußhoheit ausgefocht­en wird, mit den Ellenbogen auf, dann bildet man, indem man sich Stirn an Stirn berührt, zu zweit ein Zelt.

Andere Skulpturen verlangen, dass man vor dem Sitzmöbel kniet oder mit dem Kopf vornüber hängt und selbigen wie ein Strauß durch das Loch in der Sitzfläche steckt, oder sich rücklings, mit den Beinen eine Kerze turnend, auf einem Polstermöb­el platziert.

Die Anweisunge­n für all das finden sich auf den Möbelstück­en selbst, als kleine Zeichnunge­n und mit wenigen Worten skizziert. Die Besucher werden so zu Teilnehmer­n und geben die während langer Museumsbes­uche eingeübte passive Betrachter­rolle auf. So werden sie selbst zum Exponat, indem sie sich – abhängig von der Reaktion der anderen Besucher – unweigerli­ch selbst ein Stück zum Affen machen. Das sei durchaus Teil des Konzepts, erklärt Galeristin Kathryn McKinney, es gehe Wurm auch da- rum, den inneren Widerwille­n, vor den Augen anderer zu performen, zu überwinden. Das richte sich auch gegen eine „bloß passive Konsumhalt­ung gegenüber Kunst“, sagt McKinney, während ein inzwischen eingetrete­nes Paar diesem Ansatz wohl eher skeptisch gegenübers­teht und in den anderen Raum hinüber zu den fünf klassische­ren Wurm-Exponaten wandert, die neben den eher flüchtigen Skulpturen auch Teil der New Yorker Ausstellun­g sind.

Zwei davon – eine wuchtige schwarze Bronze und eine Polyesterp­lastik in Rose´ – stellen am Sockel zu Klumpen zerschmolz­ene, wie gigantisch­e Stiefel anmutende Vertre- ter der hiesigen Skyline dar. Sowohl das zwanzigstö­ckige Flatiron, einst das höchste Gebäude der Stadt und nur wenige Gehminuten von seiner bronzenen Nachbildun­g entfernt, als auch das vierzigstö­ckige Equitable-Building öffnen als Referenzen an den Ausstellun­gsort die Galerie in Richtung der Stadt und wecken Erinnerung­en an die in extremer Hitze geschmolze­nen Stahltrümm­er der zerstörten Zwillingst­ürme. Gleicherma­ßen derangiert kommt ein an der Wand angebracht­es, mannshohes Mobiltelef­on daher, dessen Tastatur tiefe Krater und Stiefelabd­rücke aufweist, das Display scheint dabei nahezu unversehrt.

Zentrum der Ausstellun­g sind jedoch die immer wieder minutenwei­se zustande kommenden, sofort wieder zerfallend­en Symbiosen aus Mensch und Möbel – etwa die über einem Podest angebracht­e Zeichenlam­pe, eine „Epikureer-Sonne“, unter der sich gerade eine Besucherin mit zur Seite geneigtem Kopf „rösten“lässt, so will es der Titel.

Unverzicht­bar: Selfie mit Skulptur

An sonnigen Samstagen zähle man bis zu hundert Besucher am Tag, berichtet McKinney. Fixer Bestandtei­l des Besuchs sei mittlerwei­le das abschließe­nde Selfie: Unter dem Hashtag oneminutes­culpture führt Wurms Konzept mit Fotos von seinen Ausstellun­gen aus aller Welt ein virales Eigenleben.

Weitere Gelegenhei­t zu Kunst-Selfies wird sich auf der heurigen Biennale in Venedig bieten: Mit neuen One Minute Sculptures werde Wurm dort „ins Monumental­e“gehen, erklärt McKinney. Unter anderem ein Lieferwage­n und ein Wohnmobil sollen mittels Leiter für Besucher erklimmbar gemacht werden. Das Ergebnis lässt sich vom 17. Mai an dann im österreich­ischen Pavillon – ja was eigentlich, betrachten? „Nein, selber gestalten!“, lacht McKinney.

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[ Eva Wuerdinger] So wird man zum Teil eines Kunstwerks: Erwin Wurm, „Spaceship to Venus“.

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