So wird man zu einem Kunstwerk
Ausstellung. Ab 13. Mai bespielt er den Österreich-Pavillon der Biennale in Venedig. In New York lockt Erwin Wurm indessen die Besucher in neue „One Minute Sculptures“– und weckt Assoziationen mit den zerstörten Twin Towers.
Erwin Wurm bespielt den Österreich-Pavillon in Venedig (im Bild sein „Spaceship to Venus“).
Betritt man dieser Tage die im Westen Manhattans, im Stadtteil Chelsea, gelegene Lehmann Maupin Galerie, begegnet einem gleich am Eingang ein überlebensgroßer, in hellrosa Hose gekleideter Dreifüßler, dessen überzählige Extremität dort absteht, wo eigentlich der menschliche Oberkörper ansetzt. Seltsam verrenkt, so fühlt man sich mitunter selbst, wenn man sich dann auf die restlichen der zwölf Exponate einlässt, die der Österreicher Erwin Wurm ersonnen und installiert hat. Noch bis 26. Mai zeigt die Galerie unter dem Titel „Ethics demonstrated in geometrical order“verschiedene Möbelstücke, denen zum Dasein als Skulptur erst durch das Zutun derer verholfen wird, die gewöhnlich als Besucher die Galerie betreten – und sie dieses Mal als Teil eines Kunstwerks wieder verlassen.
In vier Räumen legt und setzt man sich nämlich auf die so entstehenden „One Minute Sculptures“– eine Reihe, die Wurm bereits seit 1997 immer wieder fortsetzt – und wird dadurch selbst zur „Denkfigur“. So überlegt man noch, ob man wirklich vor aller Augen mit den Füßen durch zwei kreisrund ins Obere eines Couchtischs gefräste Löcher steigen möchte – und gerät durch derartige Introspektion prompt selbst zum Teil des Kunstwerks.
„Organization of Love“: Zelt zu zweit
Tut man es doch und zieht sich den Tisch mit den Händen sozusagen als Rock über die Beine, dann fügt man sich mit dem Möbel eine Minute lang zur Skulptur „Deep Snow“: das Gegenteil der gewohnten Bittenicht-anfassen-Kunstwerke. Ein aufs Podest gehobener, gepolsterter Sitzhocker, der im Titel („Organization of Love“) wohl die Organisationsarbeit reflektiert, die man auch für die Liebe braucht, verlangt als einzige Skulptur zwei Teilnehmer: Stützt man sich dort, wo normalerweise während zuhause verbrachter Fernsehabende die Fußhoheit ausgefochten wird, mit den Ellenbogen auf, dann bildet man, indem man sich Stirn an Stirn berührt, zu zweit ein Zelt.
Andere Skulpturen verlangen, dass man vor dem Sitzmöbel kniet oder mit dem Kopf vornüber hängt und selbigen wie ein Strauß durch das Loch in der Sitzfläche steckt, oder sich rücklings, mit den Beinen eine Kerze turnend, auf einem Polstermöbel platziert.
Die Anweisungen für all das finden sich auf den Möbelstücken selbst, als kleine Zeichnungen und mit wenigen Worten skizziert. Die Besucher werden so zu Teilnehmern und geben die während langer Museumsbesuche eingeübte passive Betrachterrolle auf. So werden sie selbst zum Exponat, indem sie sich – abhängig von der Reaktion der anderen Besucher – unweigerlich selbst ein Stück zum Affen machen. Das sei durchaus Teil des Konzepts, erklärt Galeristin Kathryn McKinney, es gehe Wurm auch da- rum, den inneren Widerwillen, vor den Augen anderer zu performen, zu überwinden. Das richte sich auch gegen eine „bloß passive Konsumhaltung gegenüber Kunst“, sagt McKinney, während ein inzwischen eingetretenes Paar diesem Ansatz wohl eher skeptisch gegenübersteht und in den anderen Raum hinüber zu den fünf klassischeren Wurm-Exponaten wandert, die neben den eher flüchtigen Skulpturen auch Teil der New Yorker Ausstellung sind.
Zwei davon – eine wuchtige schwarze Bronze und eine Polyesterplastik in Rose´ – stellen am Sockel zu Klumpen zerschmolzene, wie gigantische Stiefel anmutende Vertre- ter der hiesigen Skyline dar. Sowohl das zwanzigstöckige Flatiron, einst das höchste Gebäude der Stadt und nur wenige Gehminuten von seiner bronzenen Nachbildung entfernt, als auch das vierzigstöckige Equitable-Building öffnen als Referenzen an den Ausstellungsort die Galerie in Richtung der Stadt und wecken Erinnerungen an die in extremer Hitze geschmolzenen Stahltrümmer der zerstörten Zwillingstürme. Gleichermaßen derangiert kommt ein an der Wand angebrachtes, mannshohes Mobiltelefon daher, dessen Tastatur tiefe Krater und Stiefelabdrücke aufweist, das Display scheint dabei nahezu unversehrt.
Zentrum der Ausstellung sind jedoch die immer wieder minutenweise zustande kommenden, sofort wieder zerfallenden Symbiosen aus Mensch und Möbel – etwa die über einem Podest angebrachte Zeichenlampe, eine „Epikureer-Sonne“, unter der sich gerade eine Besucherin mit zur Seite geneigtem Kopf „rösten“lässt, so will es der Titel.
Unverzichtbar: Selfie mit Skulptur
An sonnigen Samstagen zähle man bis zu hundert Besucher am Tag, berichtet McKinney. Fixer Bestandteil des Besuchs sei mittlerweile das abschließende Selfie: Unter dem Hashtag oneminutesculpture führt Wurms Konzept mit Fotos von seinen Ausstellungen aus aller Welt ein virales Eigenleben.
Weitere Gelegenheit zu Kunst-Selfies wird sich auf der heurigen Biennale in Venedig bieten: Mit neuen One Minute Sculptures werde Wurm dort „ins Monumentale“gehen, erklärt McKinney. Unter anderem ein Lieferwagen und ein Wohnmobil sollen mittels Leiter für Besucher erklimmbar gemacht werden. Das Ergebnis lässt sich vom 17. Mai an dann im österreichischen Pavillon – ja was eigentlich, betrachten? „Nein, selber gestalten!“, lacht McKinney.